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Carola Nacke, Prina

Jetzt müssen wir stark aufpassen, dass das Erreichte auf dem Weg zur Inklusion und die Rechte der Betroffenen nicht im Namen der Pandemie aus Kostengründen in den Haushaltsplanungen geopfert werden!

Gesichter der Inklusion

Mein Name ist Carola Nacke, ich bin 55 Jahre alt. Mein Leben verlief normal, Schule, Lehre, Fachschulstudium.

Am 18.7.1986 nahm mein Leben eine andere Wendung. Ich erlitt unverschuldet einen schweren Verkehrsunfall mit schwersten Schädel-Hirn-Verletzungen, dazu großflächige Schnittverletzungen im Gesicht. Nach dem Unfall habe ich mich in ein anderes Leben zurückgekämpft, mit Verlusten und Ängsten. Rehamöglichkeiten für SHT Patienten gab es damals noch nicht!

Vor meinen Unfall habe ich an einem Großrechner in einem Kraftwerk gearbeitet, dies ging durch die Unfallfolgen nicht mehr und ich musste mich beruflich umorientieren. Ich war eigentlich Betriebsingenieurin und arbeitete dann ab 1990 in einer anderen Berufsrichtung.

Am 3. Tag schickte der Oberarzt eine Assistenzärztin vor, welche mir den Verdacht auf Down-Syndrom überbringen sollte, da ein Herzfehler gefunden wurde!

1997 mit der Geburt meines Sohnes wurden die Weichen nochmals umgestellt, nach 20 Stunden kam mein Sohn Cornelius als Frühgeburt mit mehrmaliger Nabelschnurumschlingung zur Welt! Die Ärzte zeigten mir ein graublaues Baby: Ihr Sohn! Nach langen Minuten der Reanimation hörte man dann ein zartes Stimmchen! Am 3. Tag schickte der Oberarzt eine Assistenzärztin vor, welche mir den Verdacht auf Down-Syndrom überbringen sollte, da ein Herzfehler gefunden wurde! Da ich bis zur Schwangerschaft ehrenamtlich im Behindertenfahrdienst tätig war, kannte ich die Anzeichen wie Nackenfalte, offener Mundschluss, Vierfingerfurche, Sandalenspalte etc., da war bis auf die Muskelschwäche nix vorhanden. Frühgeburt, schwere Neugeborenengelbsucht, organische Dispositionen gehören auch mit dazu, kannte ich aber nicht!

Wir bekamen auch durch die Blume gesagt, dass wir meinen Sohn in der Klinik lassen sollten, dies wurde dann durch ein klärendes Gespräch abgelehnt! Nach 10 Tagen Intensivstation ging es endlich nach Hause und zur Abklärung der Genetik ins Kinderzentrum Friedrichstadt, wo wir warmherzig aufgenommen wurden. Die Ärzte schüttelten den Kopf bei der Diagnose, da ja bis auf das Herz und die Muskelschwäche nichts auf Down-Syndrom hindeutete! Nach 14 Tagen kam die Diagnose "Robertsonsche Translokation mit Down Syndrom" - eine der seltensten Form von Down-Sydrom (damals gab es 8 Menschen in Deutschland, 648 Menschen auf der Welt). Diese Variante gibt es bei 1:1 Mio. Geburten! Nach der genethischen Abklärung bei uns Eltern, wussten wir: Er ist eine Neumutation! Die Hirnschädigung durch den Sauerstoffmangel sollte sich über die Zeit als größere Beeinträchtigung herausstellen!

1997 las man in den Unterlagen, die ich von der Klinik nach der Geburt bekam, noch von Mongoloid, nicht bildungsfähig, können nicht laufen, keine lange Lebenserwartung etc.! Auch beim Stillen sagte eine Hebamme: Lassen sie das, das bringen die nicht! Als frischgebackene Mutter ist man total zerrissen, da man ja eigentlich ein "gesundes Kind" geboren hat, so stand es zumindest in der U1.

Durch die netten Ärzte im Kinderzentrum bekam ich zeitnah einen Termin in der Kiefernorthopädie! Dort lief mir nach 6 Wochen ein kleines Mädchen mit Down-Syndrom lachend mit seiner Mutter über den Weg! Ich dachte nur, sie können doch laufen, reden, lachen! Die Ärzte stellten uns einander vor, und so bekam ich Kontakt zu anderen Eltern und damit zu den wichtigen Informationen und dem Austausch. Mit einigen Eltern bin ich heute noch befreundet. Im 1. Lebensjahr haben wir verschiedene Therapien wie Vojtha, die Gaumenplatte, später dann Bobath gemacht. Cornelius begann mit knapp 13 Monaten an der Hand zu laufen, mit 18 Monaten frei!

Ich bekam damals das Telefonbuch zur Suche nach einem Kindergarten empfohlen und den Spruch: Viel Erfolg! Da dachte ich, so läuft also Inklusion ab dem Kindergartenalter!

Mit 1 1/2 Jahren bekam Cornelius einen Platz in der Lebenshilfe in Dresden auf der Wintergartenstr, wo er liebevoll betreut wurde. Denn ich musste aus rechtlichen Gründen wegen des Unfalls wieder arbeiten gehen.
Ich bekam damals das Telefonbuch zur Suche nach einem Kindergarten empfohlen und den Spruch: Viel Erfolg! Da dachte ich, so läuft also Inklusion ab dem Kindergartenalter! Es war frustrierend, eine Absage nach der anderen, bis wir im Spatzen Nest in Dresden Prohlis landeten. Die Chefin sagte damals: “Down-Syndrom hatten wir noch nicht, probieren wir". So war Cornelius das 1. Kind mit Down-Syndrom! Inzwischen sind 21 Jahre ins Land gegangen, vieles hat sich im Kindergartenbereich geändert für Kinder mit Inklusionsbedarf.

Inzwischen bekam Cornelius eine Schwester, gesund und munter, welche dann Cornelius in der Entwicklung überholte und ihn in seiner Entwicklung mitnahm. Er imitierte sie und wollte auch das machen was sie konnte. Leider entwickelte Cornelius atypische Verhaltensweisen in Richtung Autismus. Nach langem Kämpfen bekam ich eine Überweisung. Die Ärztin überbrachte mir dann die gute Nachricht: Kein Down-Syndrom+ (Down-Syndrom mit Autismus), aber autistische Züge nach Sauerstoff-Mangel!

Mit viel Geduld und Liebe hatte seine damalige Klassenlehrerin und ihre Kolleginnen Cornelius dazu gebracht, am Unterricht teilzunehmen und sein Vertrauen zu erlangen.

Nach dem Hochwasser 2002 sind wir nach Pirna gezogen, dort kam Cornelius in die Kita als Inklusions-Kind. Danach stand die Einschulung an, die zum Wohnort gehörende Schule wollte Cornelius gern als Inklusions-Kind. Bis heute lebt die Schule den Inklusionsgedanken. Aber ich wusste, dass ich es nicht schaffen würde, aber auch die Schule nicht. So kam er nach Bonnewitz in die Schule. Die ersten 6 Wochen saß er unterm Tisch mit einer Decke über dem Kopf, nur bei dem Wort Essen kam eine Hand heraus! Mit viel Geduld und Liebe hatte seine damalige Klassenlehrerin und ihre Kolleginnen Cornelius dazu gebracht, am Unterricht teilzunehmen und sein Vertrauen zu erlangen. Wenn es zu Reizüberflutungen oder plötzlichen Veränderungen im Ablauf kam, war Cornelius überfordert und ging sprichwörtlich über Tische, Bänke und Stühle. Wir hatten dann einen Arzt aufgesucht um eine medikamentöse Behandlung zu bekommen. Dies wurde abgelehnt und uns gesagt: "Geben sie ihn in eine Einrichtung und leben sie ihr Leben"!

Als Cornelius 18 Jahre alt war, fanden wir einen Facharzt, der die richtige Diagnose stellte und Cornelius mit Medikamenten versorgte. Mit einem Mal begann er zu zählen, Worte zu buchstabieren. Wäre er eher behandelt worden, hätte er mehr gelernt, bis zum heutigen Tag üben wir immer noch! Inzwischen ist Cornelius fast taub, und trägt nun Hörgeräte. Damals hieß es noch: er braucht kein Hörgerät. Heute werden die Kinder bei einer Hörschädigung sofort versorgt. Auf Grund seiner Mehrfachbehinderung war es schwer einen optimalen Werkstattplatz zu bekommen. Der erste Versuch ging gehörig schief! Heute ist er im Christlichen Sozialwerk ein stolzer Küchenjunge und fühlt sich angenommen. Die Mitarbeiter betreuen und fördern ihn liebevoll, er hat dort auch wieder einen Entwicklungsschub gemacht. Auf den 1. und 2. Arbeitsmarkt hätte er nie eine Chance.

Wir haben dafür gekämpft, dass die Wahlfreiheit auf inklusive Beschulung oder auf Beschulung in einer Förderschule jetzt im Schulgesetz steht.

Der Erfahrungsaustausch unter den Eltern in den verschiedenen Ländern und Gruppen ist extrem wichtig. Diese Netzwerke und Verbindungen bestehen zum Teil heute noch. Wenn ich an die Arbeit der Elternvertreter zum Sächsischen Schulgesetz denke, was da an ehrenamtlicher Arbeit geleistet wurde, in Sitzungen für die Stellungnahmen, auf Symposien und Gesprächen! Ganz besonders bleibt mir der § 4c in Erinnerung, der eine inklusive Beschulung verhindert hätte. Wir haben dafür gekämpft, dass die Wahlfreiheit auf inklusive Beschulung oder auf Beschulung in einer Förderschule jetzt im Schulgesetz steht. Dies ist zwar nicht die Umsetzung der UN-Behindertenrechtscarta, aber der 1. Schritt dazu!

Durch Covid-19 gibt es immer genug Handlungsbedarf.

Oft kamen Anrufe, weil meine Hilfe gebraucht wurde. Das ist bis heute noch so. Da hieß es oft: "Carola mach mal". Ein Fall ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Ein Junge sollte die Schule verlassen und in eine Förderschule kommen, da er bei Überforderung den Unterricht störte! Ich hörte der Mutter zu und empfahl ihr einen Termin in der Autismus-Ambulanz auszumachen. Sie hatte Glück und bekam sofort ein Termin. Sie erhielt die Diagnose Asperger-Syndrom. Der Schüler bekam nach Rücksprache mit der Direktorin alle Unterstützung und die notwendigen Hilfsmittel und hat später sein Abitur abgelegt!
Es gab dann auch eine Veranstaltungsreihe „Eltern für Eltern“ mit unterschiedlichen Themen. Oft konnte ich im Nachgang durch Gespräche den Eltern helfen, für ihre Kinder die Einstufungen der Grade der Schwerbehinderungen oder Pflegegrade zu erlangen. Im Moment bin ich noch berufene Sachverständige und Beraterin für den Doppelausschuss FKE/FÖS im Landeselternrat. Durch Covid-19 gibt es immer genug Handlungsbedarf.

Ich habe den Landeselternrat auch auf Fachtagungen vertreten, z.B. im Bundestag zum Thema "Recht auf Ganztag" in der Grundschule, explizit für die Kinder mit Handicap. Vor 2 Jahren wurde ich zur Festveranstaltung 10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention nach Berlin eingeladen, dies war für mich eine große Ehre. Auch weil ich mich mit so vielen Mitstreitern persönlich treffen und austauschen konnte. Immer wieder merkt man, ohne Netzwerke, Erfahrungsaustausch und Verbindungen erreicht man nichts!

Dazu kam mein berufliches Engagement als Haupt- und Bezirkspersonalrat für meine Kollegen. Bis meine Gesundheit auf Grund der Unfallfolgen plötzlich streikte und ich als Notfall in die Klinik kam. Da kam dann die klare Ansage: entweder ein Rentenantrag oder die Chance bald die "Radieschen" von unten zu sehen". Das hatte ich dann auch verstanden! Ich stand kurz vorm Abschluss einer weiteren Ausbildung zum Konflikt und Mobbingberater an einer Fachschule, kurz vorm Abschluss kam der Rentenbescheid.

Menschen mit Handicap haben es bis heute noch schwer im Berufsleben einen Job zu finden ...

Sehr oft erlebe ich in der Gesellschaft, dass Menschen die nicht perfekt sind, beweisen müssen, dass sie genauso leistungsfähig sind wie ein "normaler" Mensch. Menschen mit Handicap haben es bis heute noch schwer im Berufsleben einen Job zu finden, oft auch durch Vorurteile des Umfeldes!

Ich selbst sehe mein Leben wie ein Zug, in ihm fahren viele Menschen mit, einige steigen schnell wieder aus. Andere steigen dafür ein und fahren sehr lange mit und begleiten mich in meiner ehrenamtlichen Arbeit aber auch als Freunde. Ohne Cornelius hätte ich nie so viele wunderbare Menschen kennen lernen dürfen, wie z.B. Corinna Rüffer, behindertenpolitische Sprecherin der Bundesfraktion der Grünen neben vielen anderen.

Inzwischen betreue ich ehrenamtlich Senioren einer Ortsgruppe und sitze als Mitglied in der Seniorenvertretung in der Stadt. Zudem bin ich im Netzwerk "Pflegende Angehörige" aktiv. Der Kampf für die Rechte der Betroffenen ruht auch nicht, gerade auch durch Covid-19 verändert sich das gesellschaftliche Miteinander extrem! Ein Beispiel ist für mich das unsägliche Pflegeintensivgesetz (ehemals RISK), welches unter Covid-19 durchgepeitscht wurde, trotz der großen Proteste der Betroffenen und Einsprüche der Behindertenverbände. Dieses Gesetz unterbindet das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, Wahl auf den Wohnort, Schulrecht und vieles mehr! Den Betroffenen bleibt nun nur noch der Gang vor das Bundesverfassungsgericht!

Was mir Sorgen bereitet ist, was passiert mit den Kindern der sogenannten Risikogruppe (was für ein hässliches Wort, als wäre die Gruppe eine Gefahr für die Gesellschaft)? Werden sie von der Beschulung ausgeschlossen, in der Förderungöbeeinträchtigt, bekommen die Familien die Unterstützung?

Zur Risikogruppe gehören 40 % der Bevölkerung der Bundesrepublik, d.h. Menschen mit Behinderungen, chronisch Vorerkrankte und Menschen über 60+!

Kommen die Schulbegleiter und Integrationshelfer weiter zu den Familien? Im ersten Lockdown 2020 erfolgte dies nicht, die Schulbegleiter und Integrationshelfer wurden zum Teil in Kurzarbeit geschickt bzw. anders eingesetzt. Auch jetzt gibt es die ersten Fälle davon! Was ist mit den Hygienekonzepten die an die Kinder angepasst werden müssen?
Jetzt müssen wir stark aufpassen, dass das Erreichte auf dem Weg zur Inklusion und die Rechte der Betroffenen nicht im Namen der Pandemie aus Kostengründen in den Haushaltsplanungen geopfert werden!

Ein Beispiel sind für mich die Gedankenspiele des Bundesgesundheitsministers 40% der Verhinderungspflege einzufrieren, welche gerade für die pflegenden Angehörigen, besonders auch für die Familien, die einzige Chance ist, Entlastung zu bekommen, da einige Kurzzeitpflegen für immer geschlossen wurden!

Wir als Gesellschaft müssen offen sein, sie gehören dazu zur Gesellschaft!

Die heutige Generation der Menschen mit Handicap wächst selbstbestimmter auf. Sie lernen nicht nur in Förderschulen, arbeiten nicht nur in den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, sondern man trifft sie in Cafés, in Supermärkten oder als Pflegekraft in einer Klinik, also im normalen Leben. Wir als Gesellschaft müssen offen sein, sie gehören dazu zur Gesellschaft!

Sie brauchen dann aber auch im Alter eine andere Wohnform als ein Altersheim, sie sind aktiv und selbstbestimmter, das ist eine weitere Problematik, die auf uns als Gesellschaft zukommt. Was wird dann?

Interview geführt am: 19.05.2020

Interview veröffentlicht am: 11.02.2021

Frau Nacke mit ihrem Sohn Cornelius, der sie umarmt