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Gastbeitrag von Elke

Pandemie auf autistisch

Gesichter der Inklusion

Wir möchten Ihnen Elke vorstellen, die durch eine Brieffreundin auf unsere Kampagne aufmerksam geworden ist und sich entschlossen hat, einen Text über ihr Leben zu verfassen. Das Ergebnis ist ein sehr interessanter und authentischer Beitrag, den wir Euch nicht vorenthalten möchten.

Mein Name ist Elke. Als Autistin habe ich mir während Pandemie und Lockdown gar nicht selten Gedanken darüber gemacht, dass wir Menschen – nicht nur in sozialer Hinsicht – ganz unterschiedliche Dinge brauchen und möchten: Normalerweise müssen Autisten sich einer lauten, vollen, extrovertierten Welt der Massenveranstaltungen, des Smalltalk und der Unstrukturiertheit anpassen, die wenig Rücksicht auf oft ganz anders geartete autistische Bedürfnisse nimmt.
Doch für drei Jahre hat Corona das real existierende soziale Leben ins Gegenteil verkehrt, so dass es nun ausnahmsweise die Neurotypischen (= Nicht-Autisten) waren, die sich an Kontaktverbote, Homeoffice und Distanzunterricht anpassen mussten und deren Bedürfnisse dabei nicht beachtet wurden.

Noch immer werden die Folgen nicht nur der Kontaktbeschränkungen wissenschaftlich untersucht, wobei zahlreiche Studien und Umfragen belegen, wie stark die Mehrheit der Bevölkerung vor aallem unter diesem „Social Distancing“ gelitten hat. Also könnte man doch auch mal erforschen, wie Minderheiten unter dem gesellschaftlichen „normal“ leiden – für viele Autisten ist es jetzt wieder (zu) laut, voll und hektisch -, beziehungsweise wie man diesen Zustand verbessern könnte: Inklusion ist, wenn möglichst niemand dazu gezwungen wird, für längere Zeit ein Leben gegen seine natürlichen Bedürfnisse zu führen.

Ich bin 45 Jahre alt, und im Jahr 2013 wurde bei mir das Asperger-Syndrom diagnostiziert.

Ich bin 45 Jahre alt, und im Jahr 2013 wurde bei mir das Asperger-Syndrom diagnostiziert. Natürlich bin ich nicht vor zehn Jahren über Nacht autistisch geworden, sondern ich bin schon so geboren worden. Aber einen großen Teil meines Lebens habe ich in einer Umgebung verbracht, in der noch kaum jemand etwas über Autismus wusste und der Begriff „Inklusion“ noch sehr ferne Zukunftsmusik war.

Zum Beispiel in der Schule: Der obligatorische Satz in jedem meiner Grundschulzeugnisse lautete: „Ist nicht in die Klassengemeinschaft integriert“. Sprich, bereits in der ersten Klasse die Note 6 für nicht vorhandenes Sozialverhalten. Mit sechs Jahren konnte ich nichts anfangen mit dem sperrigen Fremdwort „integriert“. Aber auch nachdem es mir kindgerecht übersetzt worden war – „Du musst mehr mit den anderen Kindern reden und mit ihnen spielen“ -, konnte ich nicht erkennen, welchen Fehlers ich mich schuldig gemacht haben sollte. Es war schlimm genug für mich, zusammen mit 20 Mitschülern jeden Tag den ganzen Vormittag zusammen im Unterricht sitzen zu müssen, und mein Bedürfnis, auch noch in den Pausen und nachmittags Zeit mit ihnen zu verbringen, tendierte aufrichtig gegen null.
Hätten wir schon in der Grundschule Englisch gelernt, dann hätte in meinem Hirn an jedem Zeugnistag ein dickes, rotes – ERROR – geblinkt.

Eine der zahlreichen Maßnahmen, um mich zu „bessern“, bestand aus einem mehrmonatigen – höchst unfreiwilligen – Aufenthalt in der Kinderpsychiatrie, als ich 14 war.

Das Gymnasium, das ich danach ganz selbstverständlich besuchte – für meinen Vater ist man ohne Abitur kein Mensch -, war rein leistungsorientiert, und wer das Soll nicht erfüllte aufgrund von intellektuellen, sozialen oder sonstigen Schwierigkeiten, bekam die rote Karte gezeigt.
Eine der zahlreichen Maßnahmen, um mich zu „bessern“, bestand aus einem mehrmonatigen – höchst unfreiwilligen – Aufenthalt in der Kinderpsychiatrie, als ich 14 war. Ich glaube, es hat durchaus seinen Sinn, dass ich mich nicht mehr an viele Einzelheiten erinnere: Auf jeden Fall viel Angst und Zwang, Drohung und Bestrafung, Anwendung von jeder nur denkbaren Form von Gewalt, die allgegenwärtige Ankündigung „Dann kommst du hier nie mehr raus“. Ja, Kinder, die von ihren eigenen Eltern in einem Gefängnis mit Gittern vor den Panzerglasfenstern und allmächtigen Aufsehern allein gelassen werden, glauben das sofort. Dort sollte ich also dazu gebracht werden, mich endlich „normal“ zu verhalten – zum Beispiel indem man mir bei Strafe explizit verboten hat, meinem dringendsten Bedürfnis nachzukommen, allein zu sein. Diese „Behandlung“ war zwar zu 100% traumatisch für mich, aber leider zu 0% erfolgreich in dem Sinne, wie die Erwachsenen sich das vorgestellt hatten.

Als Schule gar nicht mehr ging, war ich 16 und wusste mir in meiner ungehörten Verzweiflung nicht anders zu helfen, als mich einfach zu weigern, noch einen einzigen Tag länger hinzugehen.
Siehe oben, ohne Abitur ist man kein Mensch. Der junge Nicht-Mensch wurde – verständlicherweise - von allen Seiten gedrängt, dann wenigstens zeitnah eine Ausbildung, ein Praktikum, eine Arbeit aufzunehmen, ganz egal was, nur Hauptsache IRGENDWAS und nicht nur „nichts“ als eine blamable Lücke im Lebenslauf.
Nicht, dass die Damen vom Arbeitsamt nicht alle sehr nett und engagiert gewesen wären, und es gab auch noch weitere Personen, die mit mir zur Lehrstellenbörse gegangen sind, mir einen Praktikumsplatz bei ihrem Nachbarn besorgen wollten. Doch jeder meiner Versuche endete – für mich voraussehbar – zuverlässig innerhalb kürzester Zeit im Desaster, weil ich bis heute vollkommen überfordert bin, wenn ich jeden Tag unter Menschen gehen und auch nur minimal mit ihnen kommunizieren soll. Der Nicht-Mensch war nach der Lesart der Erwachsenen also auch noch ein natürlich einfach nur fauler Totalversager.

Unsere Eltern waren geschieden, und meine jüngere Schwester und ich lebten bei unserem Vater. In der Phase meiner beschriebenen Orientierungslosigkeit gründete er eine neue Familie, in der ich – verständlicherweise – ausdrücklich unerwünscht war. Er erkundigte sich beim Sozialamt, wo er seine unnütze Tochter loswerden könne, und man empfahl ihm, mich ins gemeindeeigene Obdachlosenheim zu bringen.

Mehr oder weniger mein gesamtes Erwachsenenleben habe ich als Sozialhilfeempfänger verbracht, weil ich laut beeindruckend vielen Gutachtern dauerhaft nicht in der Lage sei, auch nur das Minimum an „wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung zu erbringen.“

Soweit ist es zum Glück nicht gekommen, aber mit 16 erschreckte mich bereits diese Möglichkeit, die für meinen einzigen noch verbliebenen Elternteil durchaus eine realistische Option zu sein schien.
Mehr oder weniger mein gesamtes Erwachsenenleben habe ich als Sozialhilfeempfänger verbracht, weil ich laut beeindruckend vielen Gutachtern dauerhaft nicht in der Lage sei, auch nur das Minimum an „wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung zu erbringen.“ Der nicht wirtschaftlich verwertbare Nicht-Mensch war endgültig aussortiert worden von der Leistungsgesellschaft.
Dennoch beinhaltete dieses amtliche Zertifikat meines Nicht-Wertes gleichzeitig den für mich ungleich wichtigeren Aspekt, dass mich niemand mehr zwingen würde, jeden Tag unter Menschen zu gehen – man hatte mir auch einen offiziellen Schutzbrief gegeben.
Dass ich es nicht schaffe, selbst für meinen Lebensunterhalt aufzukommen, ist nichts, worauf ich stolz wäre. Nichtsdestominder ist es so, wie es eben ist, und ich musste lernen, damit zu leben und auch immer wieder den dazugehörigen Stigmatisierungen zu begegnen.

In meinem Leben habe ich so viele Psycho-Diagnosen angesammelt, dass es auch noch für ein paar weitere Personen reichen würde. Und ich war auch als Erwachsene teils freiwillig, teils unfreiwillig in entsprechenden Kliniken.
Die dort an mir durchgeführten „Therapien“ erwiesen sich durchweg als ähnlich sinnvoll und hilfreich wie mein Aufenthalt in der Kinderpsychiatrie:
Frau Dipl.-Psych.: „Das Team hat beschlossen, dass Sie eine Depression haben.“
Ich: „Das stimmt nicht.“
Frau Dipl.-Psych.: „Sie haben doch selbst zugegeben, dass Sie schlecht schlafen und sich nicht gut konzentrieren können. Nein, das liegt nicht daran, dass Sie aufgrund Ihrer chronischen Schmerzerkrankung ständig starke Schmerzen haben, sondern das können auch Symptome einer Depression sein, und das ist der Beweis dafür, dass Sie eine ebensolche haben. Und der Grund dafür ist natürlich Ihr ‚extremes soziales Rückzugsverhalten‘, unter dem Sie ganz schrecklich leiden.“
Ich: „Gut, dann sage ich jetzt, dass ich Kopfschmerzen habe. Das kann auch ein Symptom eines Hirntumors sein, und das ist nach Ihrer Logik der Beweis dafür, dass ich einen ebensolchen habe, also müssen Sie mich sofort in die Onkologie bringen.“
Frau Dipl.-Psych.: …
Ich (gedacht): Wenn man so eine „Logik“ drauf hat, bekommt man in diesem Land einen akademischen Abschluss – dann ist es echt kein Wunder, dass ich nicht mal die Schule geschafft habe. – ERROR -

Für Nicht-Insider dieser Szene: In psychiatrischen, psychosomatischen oder ähnlichen Kliniken findet ALLES, vom Essen über Entspannungsübungen bis zu Ausflügen, als ZwangsGRUPPENaktion statt, weil das grundlegende Konzept solcher Einrichtungen besagt, dass es für Menschen mit (angeblichen oder tatsächlichen) psychischen Krankheiten aller Art ohne jeden Zweifel das Beste sei, wenn sie möglichst viel Zeit mit möglichst vielen sozialen Kontakten verbringen.
Das mag durchaus sinnvoll sein für viele Patienten, allein, mir hat es leider gar nicht geholfen, wenn regelmäßig sofort mein „extremes soziales Rückzugsverhalten“ als die Wurzel allen Übels erkannt wurde und mir dringend mit allen Mitteln „wegtherapiert“ werden sollte.

Bei mir wurde ein Asperger-Syndrom diagnostiziert, und plötzlich wurde ich nicht mehr dazu genötigt, an besonders vielen Gruppen teilzunehmen, sondern man ermöglichte mir den Rückzugsraum, den ich stattdessen tatsächlich brauchte.

Im Winter 2013/14 war ich ein weiteres Mal in einer Klinik, wo das beschriebene Standardprogramm jedoch unerwartet eine wesentliche Änderung erfuhr: Bei mir wurde ein Asperger-Syndrom diagnostiziert, und plötzlich wurde ich nicht mehr dazu genötigt, an besonders vielen Gruppen teilzunehmen, sondern man ermöglichte mir den Rückzugsraum, den ich stattdessen tatsächlich brauchte. Und auch sonst behandelte man mich nicht mehr wie die so inakzeptabel Asoziale, die ich bisher immer gewesen war.

Ganz ehrlich, wenn ich alles glauben würde, was Dr. Google auf den Suchbegriff „Autismus“ hin auswirft, dann würde ich mit mir selbst nichts mehr zu tun haben wollen. Dennoch war diese Diagnose, waren die Informationen, die ich dazu bekam und mir selbst angelesen habe, ein echtes Aha-Erlebnis: Nein, ich bin gar nicht so dumm, bösartig, gestört, unerziehbar, verstockt, völlig verkehrt (ergänze beliebige weitere artverwandte Attribute), wie ich es mein Leben lang zu hören bekommen hatte, sondern ich bin einfach nur ANDERS als die meisten anderen, und ich darf auch so sein, denn „normal“ ist in meiner Programmierung nicht vorgesehen.

Ja, es gab Momente, in denen ich um die ersten so schwierigen 35 Jahre meines Lebens getrauert habe, mir vorgestellt habe, wie mein Leben ganz anders hätte verlaufen können, wenn diese Diagnose drei Jahrzehnte früher gekommen und ich von Anfang an entsprechend gefördert worden wäre. Doch bekanntlich gibt es nichts Überflüssigeres als „hätte – wäre – sollte“-Überlegungen. Was gestern war, kann nicht mehr ungeschehen gemacht werden, aber ich lebe heute und kann als erwachsener Mensch meinen gesunden Menschenverstand dazu nutzen, um selbst zu entscheiden, wie ich mein Morgen gestalte. Letztlich mag auch Autismus nur eine „Schublade“ sein, aber zumindest ist es eine, die mir dabei hilft, zukünftig anders, besser, gesünder mit meinen Mitmenschen und nicht zuletzt mit mir selbst umzugehen.

Inklusion fängt bei mir selbst an: Meine Gegenwart und Zukunft konstruktiv zu gestalten, bedeutet auch, die Vergangenheit abzuschließen, um nicht in lebenslanger Verbitterung alt zu werden, sondern offen zu bleiben für die Menschen um mich.

Das muss nicht immer die leichteste Übung sein: Meine Psychologin in dieser Klinik sagte mir, ich solle versuchen, meinen Eltern, meinen Lehrern, anderen Erwachsenen von früher nichts nachzutragen, da sie in einer Zeit, in der noch kaum jemand etwas über Autismus wusste, nur nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hätten. Da blinkte bei mir mal wieder nur – ERROR -: Danke, darf ich jetzt nicht mal jemandem die Schuld geben für so viele Fehler, durch die ich so viel Schaden genommen habe?
Es war alles andere als ein Selbstgänger zu erkennen, dass es weder mir noch anderen helfen kann, wenn ich mich einfach nur langfristig in der Rolle des Opfers einrichte. Inklusion fängt bei mir selbst an: Meine Gegenwart und Zukunft konstruktiv zu gestalten, bedeutet auch, die Vergangenheit abzuschließen, um nicht in lebenslanger Verbitterung alt zu werden, sondern offen zu bleiben für die Menschen um mich.
Wie gesagt, das ist nicht immer leicht - manchmal scheitere ich heute immer noch daran.

Was ist Inklusion für mich?

Nein, es ist nicht so einfach, dass ich mir jetzt nur das Schild „Autist“ auf die Stirn zu tackern bräuchte als ultimative Gebrauchsanleitung, und alle wüssten, wie sie idealerweise mit mir umgehen.

Nach wie vor lebe ich von Sozialhilfe (Grundsicherung), kann also nicht selbst für meinen Lebensunterhalt aufkommen. Wobei ich sehr, sehr dankbar bin für den Sozialstaat, ohne dessen existenzsichernde Unterstützung ich schon vor Jahrzehnten buchstäblich im Straßengraben verhungert wäre.
Sporadisch treten übermotivierte Berufshelferfiguren auf den Plan, die mich mit sowas wie Behindertenwerkstatt, beruflichen Rehamaßnahmen, betreuten Wohngruppen, was-weiß-ich beglücken wollen und damit eigentlich nur beweisen, dass sie mir nicht zuhören, wenn ich zum x-ten Male sage, nein, Menschen und Kommunikation, das geht gar nicht.
Somit besteht die einzige Inklusion, die ich bisher von Institutionen (Schulen, Arbeitsmöglichkeiten, Behörden) erfahren habe, eben darin, dass es mir erspart geblieben ist, mit 16 Jahren im Obdachlosenheim untergebracht zu werden.

Seit einigen Jahren haben Autisten einen Rechtsanspruch auf „barrierefreie fernschriftliche Kommunikation“. Ähm, ja - das hört sich hübsch an, ist allerdings leider oft noch sehr weit von der alltäglichen Realität entfernt.

Seit einigen Jahren haben Autisten einen Rechtsanspruch auf „barrierefreie fernschriftliche Kommunikation“. Ähm, ja - das hört sich hübsch an, ist allerdings leider oft noch sehr weit von der alltäglichen Realität entfernt. Irgendwie ist es programmatisch, dass eine Freundin von mir dazu meinte: „Heißt das, ich muss jetzt den Briefkasten tiefer hängen?“
In keiner der von mir frequentierten Arztpraxen kann man Termine online vereinbaren, und wenn ich sonst von irgendjemandem irgendetwas möchte, dann können auf der Internetseite, die heute jeder hat, noch so viele E-Mailadressen, Kontaktformulare und „Wir freuen uns auf Ihre Nachricht“ angegeben sein, in aller Regel antwortet kaum jemand auf schriftliche Kommunikationsversuche, oder allenfalls kommt der Vorschlag „Rufen Sie doch einfach an“. Eher nicht so „einfach“ für jemanden, der höchstens unter größtem Stress und im allerhöchsten Notfall telefonieren kann, so dass ich das weiträumig umgehe, wann immer es nur möglich ist.

Aber die Welt wird besser, und „die Gesellschaft“ lernt dazu:
Ich freue mich, wann immer ich mitbekomme, dass autistische Kinder heutzutage bei Bedarf das volle Programm mit Inklusionsschulen, Schulbegleitern, Sonderpädagogen, Nachteilsausgleichen bekommen, um sie beim Bildungserwerb und in ihrer individuellen Entwicklung entsprechend ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen bestmöglich zu fördern.
Und ich selbst habe gerade beim „Fachdienst Eingliederungshilfe“ unseres Landkreises eine Assistenz beantragt und auch bewilligt bekommen, die mich – gemäß ihrer Selbstdefinition im SGB – dabei unterstützen soll, meine „Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können“, sowie meine „Teilhabe am Leben in der Gesellschaft fördern“ soll.
Vor allem früher als Kind musste ich jeden Tag damit leben, sehr vieles nicht zu können und ohne eigentlich unverzichtbare Dinge auskommen zu müssen, wenn ich beispielsweise nicht in die Post oder die Apotheke oder allgemein Nicht-Selbstbedienungsgeschäfte gehen konnte, niemanden nach dem Weg fragen konnte, wenn ich mich verirrt hatte, und alles, was auch nur im Entferntesten mit telefonieren zu tun hatte, fiel sowieso von vorne herein weg. Das ist teilweise deutlich besser geworden, seit ich erwachsen bin, aber ich bin dadurch nach wie vor eingeschränkt in meiner „Teilhabe an der Gesellschaft“.
Somit darf ich gespannt sein auf meine Assistenz: Mit der Antragstellung habe ich zwar meine Komfortzone verlassen, allein, ich stelle mir vor, mit der Hilfe einer anderen Person erweitere ich meinen Handlungsspielraum nicht nur in alltäglichen Dingen, sondern gleichsam bei größeren Vorhaben, die mein Leben in eine von mir selbst gewünschte und beeinflussbare Richtung verändern sollen.

Eine ganz wichtige und wertvolle Erfahrung war es für mich, eine Zeit lang Teilnehmer einer Selbsthilfegruppe für erwachsene Autisten gewesen zu sein. Auch wenn ich da nie ein Wort gesagt habe (was uneingeschränkt akzeptiert wurde), ist es etwas ganz anderes, nicht nur in dicken Büchern zu lesen und von "Weißbekittelten" erzählt zu bekommen, sondern live zu erleben, ich bin gar nicht allein auf der Welt, sondern es gibt auch noch andere, die genauso „komisch“ sind wie ich.
Was mich hingegen immer eher irritiert hat, sind Internet-Communities von Autisten für Autisten: Wenn diese sich als geschlossene Gesellschaft präsentieren mit dem Konzept „Alle Nicht-Autisten sind doof und verstehen uns sowieso nicht und schikanieren uns nur“, was machen sie dann selbst anderes, als genau die gleiche Ausgrenzung zu praktizieren, die sie den Nicht-Autisten vorwerfen?

Ich habe vergleichsweise sehr wenige soziale Kontakte, doch ich bin kein notorisch miesmuffeliger Misanthrop, sondern mag durchaus Menschen und bin auch sehr kommunikativ.

Ich habe vergleichsweise sehr wenige soziale Kontakte, doch ich bin kein notorisch miesmuffeliger Misanthrop, sondern mag durchaus Menschen und bin auch sehr kommunikativ. Dafür musste ich einfach nur die richtigen Kanäle finden – ich treffe niemanden und telefoniere nicht, sondern kommuniziere fast ausschließlich fernschriftlich, aber das sehr intensiv mit Brief- und E-Mailfreunden, die ich teilweise schon seit Jahrzehnten kenne und mit denen ich einen für alle Beteiligten bereichernden Austausch führe.
Ja, das suspekte Subjekt mit dem „extremen sozialen Rückzugsverhalten“ ist tatsächlich sehr zufrieden mit seinem selbstgeschaffenen sozialen Netz. ;-)

Inklusion ist etwas, das mir jeden Tag begegnet: Nicht in Kliniken, wo man mich „erziehen“ will („Sie werden noch häufig mit anderen Menschen zusammen essen müssen, also werden Sie das hier üben“), sondern zum Beispiel in dem Freund, der am anderen Ende der Republik wohnt und den ich noch nie gesehen habe, der aber einfach mal für mich in einer Krankenhausambulanz anruft, weil die telefonische Terminvereinbarung für mich selbst viel schlimmer ist als die anstehende Untersuchung oder Behandlung dort. Oder in dem Arzt der Uniklinik, den ich alle paar Wochen sehe und der eine halbe Stunde lang mit mir redet (ER redet), und während der Zeit dazwischen schreibe ich ihm E-Mails. Oder in jedem Menschen, der auf das Signalwort „Autist“ mit „Aach soo“ reagiert und versucht, mir die (Kommunikations-) Situation zu erleichtern, oder auf andere Weise Rücksicht darauf nimmt, dass ich manchmal Dinge brauche, auf die man nicht sofort kommt, weil ich zum Teil ganz andere Bedürfnisse habe als die meisten anderen.

Aber genauso wenig mag ich es, wenn ich einem Dr. med. oder Dipl.-Psych. gegenübersitze, der mit einer Frequenz von gefühlt dreimal in jedem zweiten Satz von meinen „besonderen Bedürfnissen“ redet.

Inklusion findet auch auf der Sprachebene statt (oder findet eben nicht statt):
Ich hasse so Begriffe wie „AutismusspektrumsSTÖRUNG“ oder „soziale DEFIZITE“ oder „kommunikationsBEHINDERT“, auch wenn die meisten Menschen sich vermutlich gar keine großartigen Gedanken darüber machen, wenn sie solche Wörter benutzen.
Aber genauso wenig mag ich es, wenn ich einem Dr. med. oder Dipl.-Psych. gegenübersitze, der mit einer Frequenz von gefühlt dreimal in jedem zweiten Satz von meinen „besonderen Bedürfnissen“ redet. Dann gucke ich als leidlich gut unterhaltener Sprachliebhaber den weißen Kittel vor mir an und denke mir, es stört mich nicht, dass ich „anders“ bin als die meisten anderen, allein, warum gibt es das nicht einfach als „neutral-anders“, sondern nur entweder als rein defizitfokussierendes „behindert-anders“ oder als extra betontes „besonders-anders“, um herauszustellen, dass ich auf keinen Fall auch einfach nur ein Mensch bin?

Käme eine gute Fee vorbei, um mir anzubieten, meinen Autismus wegzuzaubern, dann würde ich ihr höflich, aber dezidiert antworten: „Nein, danke, kein Bedarf“.
Damit will ich nicht sagen, ich hielte mich für etwas Besseres als nicht-autistische Menschen, aber ich selbst nehme mich mitnichten nur als ein einziges Defizit auf zwei Beinen wahr, sondern ich denke mir, dass ich durch meinen Autismus tatsächlich auch Stärken habe. So habe ich etwa eine ausgeprägte Detailwahrnehmung, ein sehr rationales Denkvermögen, eine starke Strukturiertheit, mit denen ich manchmal anderen Menschen helfen oder auf andere Weise nützlich sein kann, nicht vorhandene „wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung“ hin oder her.

„DEN Autisten“ gibt es natürlich genauso wenig wie „DEN Nicht-Autisten“, sondern Autismus wird heute als ein breites Spektrum verstanden, auf dem es viele ganz unterschiedliche Ausprägungen gibt. Nein, wir lernen nicht alle das Telefonbuch auswendig wie Rain Man oder sitzen unter dem Tisch, schaukeln mit dem Oberkörper und können nicht sprechen.
Aber die Fee ist ihren Wunsch bei mir ja noch nicht losgeworden, und wenn sie mir eine anderweitige Verwendung dafür anböte, dann würde ich mir Folgendes wünschen:  
Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker wird gerne zitiert mit den Worten „Es ist normal, verschieden zu sein. Es gibt keine Norm für das Menschsein“. In diesem Sinne wünsche ich mir eine Welt, in der es egal ist, ob jemand autistisch oder nicht-autistisch oder was-auch-immer ist, und niemand „besondere“ Bedürfnisse anmelden muss, weil wir einfach alle Menschen mit unseren individuellen Eigenarten sind. Jeder hat seine Stärken und Schwächen, seine Fähigkeiten und Bedürfnisse, und Inklusion ist, wenn jeder damit seinen Platz findet, an dem er sich nützlich fühlen kann, und Unterschiede zwar berücksichtigt, aber nicht herausgestellt werden.

Ja, ich gebe es zu: Während der drei Corona-Jahre fand ich es durchaus angenehm, dass die U-Bahn so leer war, mir an der Supermarktkasse niemand mit seinem Wagen in die Hacken gefahren ist und „kontaktlos“ das neue Lieblingswort der Deutschen war.

Ja, ich gebe es zu: Während der drei Corona-Jahre fand ich es durchaus angenehm, dass die U-Bahn so leer war, mir an der Supermarktkasse niemand mit seinem Wagen in die Hacken gefahren ist und „kontaktlos“ das neue Lieblingswort der Deutschen war. Und mit Distanzunterricht und Homeoffice hätte vielleicht sogar ich einen Schulabschluss und eine „wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung“ geschafft. Aber mein „supi“ wäre das Leiden vieler anderer.
Die Pandemie ist vorbei, die Vorschriften des Herrn Lauterbach sind ausgelaufen. Vielleicht haben wir ja daraus gelernt, ein bisschen sensibler umzugehen nicht nur mit unseren eigenen, sondern auch den Bedürfnissen der anderen, so seltsam sie uns manchmal auch anmuten mögen.
Inklusion lebt davon, dass Menschen sich aufmerksam, offen und wertschätzend begegnen, um niemanden aufgrund seiner Bedürfnisse auszugrenzen oder zu nötigen. Daher möchte ich alle Forscher weltweit dazu anregen, als nächstes ein möglichst ansteckendes Empathie-Virus zu züchten und zu verbreiten – es gäbe viel weniger – ERROR – auf der Welt. :-)

Verfasst im Herbst 2023

Portraitbild von Elke. Sie hat kurze lockige Haare, schaut freundlich mit geschlossenem Mund direkt in die Kamera und hat eine runde Brille auf.

Portrait von Elke (Bildrechte: privat)