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Kristina S., Region Bautzen

Ich weiß gar nicht, ob ich, wir, hier richtig sind bei den Gesichtern der Inklusion. Inzwischen sind wir eher Gesichter der Exklusion, ab nächstem Schuljahr auch noch selbstgewählt. Wie konnte es soweit kommen?

Gesichter der Inklusion

2007 war das Jahr der großen Veränderungen in meinem Leben. Ich habe als Bankkauffrau in Frankfurt am Main gearbeitet und zog hochschwanger mit meinem Mann nach Bautzen. Im Mai kam dort unser erstes Kind Patrick auf die Welt. 2009 folgte Tobias, der unser Leben komplett auf den Kopf stellte.

Kurz nach der Geburt sagte die Ärztin uns, sie hätte den Verdacht, dass Tobias das Down Syndrom hätte. Wir wussten es vorher nicht. Wir hatten uns trotz meines Alters bei beiden Kindern gegen eine Fruchtwasseruntersuchung ausgesprochen.

Als ich Tobias nach dem Kaiserschnitt das erste Mal sah, dachte ich, er sähe irgendwie anders aus. Auf Down Syndrom kam ich nicht. Auf dem Foto, das direkt nach der Geburt gemacht wurde, konnte man es ganz deutlich sehen, später dann aber nicht mehr so sehr.

Ich hatte mir, warum auch immer, in der Schwangerschaft im 6. oder 7. Monat das Buch „Außergewöhnlich“ zum Thema Down-Syndrom gekauft. In dem Buch erzählen Mütter von sich und ihren Kindern mit Down-Syndrom.

Im Krankenhaus habe ich viel geweint und wollte auch nach Möglichkeit nicht mit den anderen 10 Müttern zusammenkommen, die glücklich ihre gesunden Babys in den Armen hielten. Oft gibt es Trauerreaktionen, manche Eltern schaffen es auch erst einmal nicht, ihr Kind in den Arm zu nehmen. Das war glücklicherweise bei uns gar nicht so. Ich hatte mir, warum auch immer, in der Schwangerschaft im 6. oder 7. Monat das Buch „Außergewöhnlich“ zum Thema Down-Syndrom gekauft. In dem Buch erzählen Mütter von sich und ihren Kindern mit Down-Syndrom. Dazu hat die Fotografin Conny Wenk wunderschöne Fotos geschossen. Im Nachhinein war ich wirklich froh, dass ich das Buch vorher gelesen hatte und ich denke, irgendwie hat Tobias mir damit eine Nachricht geschickt. Als er auf die Welt kam, war es dann nicht so dramatisch. Traurig war ich natürlich schon und die Zukunft, wie ich sie in meinen Vorstellungen gesehen hatte, war weg. Auch das Kind, wie ich es mir monatelang vorgestellt hatte, war unwiderruflich weg. Mein Mann Andreas hat alles ganz gelassen genommen.

Sehr geschockt war meine Mutter. Erst rief ich sie an, dass Tobias da war. Zwei Stunden später rief ich wieder an und knallte ihr einfach so hin, dass Tobias das Down Syndrom hätte. Irgendwie war ich zu mehr nicht fähig. Meine Mutter hat daraufhin die ganze Nacht geweint.

Wir haben Freunde, Verwandte und Bekannte informiert. Sie waren froh, dass wir so offen über alles gesprochen haben. Das hat es ihnen leichter gemacht, mit uns umzugehen.

Nun ist Tobias schon 11 Jahre alt und all die Zeit hat uns der Inklusionsgedanke begleitet. Sein Geburtsjahr, 2009, ist das Jahr der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention. Ich hatte so viel Hoffnung …

Ich weiß gar nicht, ob ich, wir, hier richtig sind bei den Gesichtern der Inklusion. Inzwischen sind wir eher Gesichter der Exklusion, ab nächstem Schuljahr auch noch selbstgewählt. Wie konnte es soweit kommen?

Tobias hat von Anfang an eine Verweigerungshaltung gezeigt und von klein auf z. B. bei der Krankengymnastik nicht mitgemacht. Er benutzte seine Hände nicht, schrie alle paar Minuten, aus dem Schreien wurde dann mit zwei Jahren das Wort „Bas“, das für eine kleine blaue Lok namens Thomas stand. Daraus wurde dann „Thomas“, dann „Thomas gucken“. Nach einem Urlaub mit den Cousins kam dann das Wort „Buh“ dazu. Sie haben Verstecken gespielt. Dieses Buh und Thomas begleiten uns nun schon 8-9 Jahre und ganz ehrlich, es treibt mich in den Wahnsinn! Und andere auch. Parallel dazu wurde seine Verweigerungshaltung immer schlimmer, sodass er mit 3,5 Jahren fast austherapiert war. Ich hatte ganz große Not, denn weder bei der Ergotherapie, der Logopädin noch bei der Frühförderung machte er mit. Was interessanterweise ging, war das Alphabet. Dafür brauchte er mit 3 Jahren nur 4 Wochen. Heute wissen wir, dass er autistische Züge hat, eine Diagnose bekommen wir aber nicht. In der Ambulanz sagten sie meinem Mann, dass alles, was ich aufgeschrieben hätte, autistisch wäre, aber sie hätten eine Stunde lang mit ihm gespielt, da würde nichts darauf hinweisen. Allerdings war er zu diesem Zeitpunkt schon 7 und wir hatten schon 3,5 Jahre intensiv mit ihm gearbeitet.

Endlich war da jemand, der meine Not verstand. Ich fuhr nach Hause und dachte, alles wird gut.

Unser Glück war Sabine Berndt, eine Ergotherapeutin mit eigener Praxis in Hamburg. Für Verzweifelte wie mich von außerhalb nahm sie sich den ganzen Tag Zeit. 6 Stunden waren Tobias und ich dort. Kein auf die Uhr gucken, oh, unsere Zeit ist leider um. Endlich war da jemand, der meine Not verstand. Ich fuhr nach Hause und dachte, alles wird gut. Ein bisschen mehr Arbeit steckte da dann aber doch noch dahinter. Wir fuhren ab 2011 immer wieder nach Hamburg und später dann nach Bayern, weil Frau Berndt dorthin umgezogen ist. Obwohl Tobias seine Verweigerung nie ganz abgelegt hat, ging es zuhause immer besser. Mit 4 fing er an zu lesen. Es hat ihm sehr viel Spaß gemacht. Schere, Kleber und Knete sind dagegen die Dinge, die er gar nicht mag. 2014 haben wir über unseren Down Syndrom Verein Sonnenwind21 e. V. in Oppach dann Frau Berndt als Referentin nach Bautzen geholt. Ich war überrascht über den riesigen Andrang. Mit 100 Teilnehmern war die Veranstaltung restlos ausgebucht. Gut war auch, dass ich allen Therapeuten und sogar unserer damaligen Ärztin vom SPZ diese Veranstaltung nahelegen konnte. Sie wollte nämlich wissen, wie ich es geschafft hatte, innerhalb von 6 Monaten aus einem schreienden, verweigernden Kind ein förderbares Kind zu machen.

Seit 2016 habe ich bei Frau Berndt die Ausbildung zur LOVT ®-Trainerin und eine Coachingausbildung im Fernstudium abgeschlossen und mich in Bautzen mit meiner Praxis „Miteinander wachsen“ selbständig gemacht. LOVT® steht für lösungsorientiertes Verhaltenstraining und ist videobasiert. Coronabedingt erarbeite ich gerade eine Möglichkeit, mein Coaching online anzubieten. Ein direkter persönlicher Kontakt ist zwar immer besser, doch durch Videokonferenz-Programme ist ein visueller Kontakt ebenfalls möglich. Im praktischen Teil meiner Arbeit, der sich u. a. aus einer Spiel- und einer Lern- bzw. Fördersituation zusammensetzt, läuft immer die Kamera mit. Bei der Online-Variante senden mir die Eltern ihre zuhause gedrehten Videos zu. Ein Film macht Verborgenes sichtbar und hilft enorm dabei, Verhalten aufzuzeigen und zu ändern bzw. Gutes weiter aufzubauen. Manchmal habe ich auch Eltern, die ihren Film anschauen und sofort erkennen, was passiert ist. Eine sehr spannende und schöne Arbeit.

Im Nachhinein habe ich erfahren, dass wohl einige Eltern und Erzieher der Meinung waren, dass es für Tobias doch besondere Einrichtungen gäbe und er dort hingehörte.

Ich möchte aber eigentlich erzählen, wie es so weit kam, dass wir so „exklusiv“ wurden.

Tobias ging in unseren Kindergarten hier im Ort. Wir waren froh, dass sie Tobias aufgenommen haben. Ein kirchlicher Kindergarten in Bautzen hat sich da nicht so sehr angestrengt. Das Erzieherteam hat wirklich viel versucht und immer mit mir in Kontakt gestanden. Oft war es für sie mit Tobias sehr schwierig. Tobias hatte nicht viel Sprache, manchmal dachten wir, er versteht auch nichts. Freundschaften waren auch nicht so richtig möglich. Seine Hand-Auge-Koordination war aber spitze - Ein Wurf, ein Treffer. Leider bestanden seine Ziele sehr oft aus den gebauten Sachen der anderen Kinder. Das kam oft nicht so gut an.

Im Nachhinein habe ich erfahren, dass wohl einige Eltern und Erzieher der Meinung waren, dass es für Tobias doch besondere Einrichtungen gäbe und er dort hingehörte. Glücklicherweise haben sie das jahrelang vor mir verborgen gehalten, ich war auch so schon kaputt genug. Durch einen dummen Zufall kam es dann aber doch heraus. Aber trotzdem schön, dass die beiden Erzieherinnen so für unseren Sohn eingetreten sind.

Irgendwann in der Kindergartenzeit ging es dann um die Schulfrage. Davor graute mir schon Jahre vorher, denn ich sah ja, dass sich in unserer Gegend überhaupt nichts Inklusives entwickelte. Bei der ersten Schuluntersuchung sagte uns die Amtsärztin, dass es hier keine passende Schule für unseren Sohn gäbe. Wir haben Tobias dann zurückstellen lassen, damit er noch eine kleine Chance hatte, vielleicht doch mit einigen Kindern seiner Kindergartengruppe in eine Klasse zu kommen. Sie waren alle ein Jahr jünger. Er brauchte auch noch mehr Zeit, sich zu entwickeln.

Ein Jahr später waren wir wieder bei der Schuluntersuchung. Wir sprachen über Inklusion und wie toll das wäre. Im Laufe des Gespräches sagte uns die untersuchende Ärztin dann zweimal, dass glücklicherweise nicht mehr so viele Kinder mit Down Syndrom geboren wurden. Wir waren schockiert! Unser Sohn muss auch irgendetwas von der Aufregung mitbekommen haben, denn er war seit diesem Tag für Wochen unsauber.

Das Amt wollte keine 100 % Schulbegleitung bezahlen, aber ohne 100 % wäre unser Schulvertrag hinfällig gewesen.

Nach langem hin und her und kurz vor knapp haben wir es dann doch geschafft, dass Tobias mit einigen Kindern seiner Kindergruppe hier in der Nähe in eine freie christliche Schule gehen durfte. Das Kollegium war, wie uns berichtet wurde, komplett gegen uns. Aber der Vorstandsvorsitzende entschied, Tobias dürfe kommen, wenn er eine 100 %ige Schulbegleitung hätte. Das bedeutete für uns die nächste Hürde. Wir stellten also den Antrag auf Schulbegleitung in Bautzen beim Jugendamt, und damit ging es erst richtig los. In einer Sitzung saßen wir, glaube ich, zu zehnt, wegen einem einzigen kleinen Jungen. Das Amt wollte keine 100 % Schulbegleitung bezahlen, aber ohne 100 % wäre unser Schulvertrag hinfällig gewesen. Also ging es noch in den Sommerferien 2016 ins Eilverfahren vor Gericht. Am Ende ging Tobias in die erste Schulwoche, ohne dass das Verfahren abgeschlossen war. Aber eine Woche später hatten wir die 100 %, die Begleitung, die wir ausgesucht hatten und sogar eine Wegbegleitung. Die Schulbegleitung übernahm auch die Wegbegleitung, und Tobias war in der Lage mit all seinen Klassenkameraden zusammen den Linienbus zu benutzen. Inzwischen fährt er auch schon alleine und steht meistens an der Bustür, wenn der Bus hält. Es war ein langer Weg mit vielen im Bus verstreuten Dingen, aber die anderen Kinder haben gelernt, ihn zu unterstützen. Auch die Busfahrer mussten lernen, mit dem zeitweise sehr häufigen Klingeln zurecht zu kommen. Wir finden, er macht das echt gut. Nur ein einziges Mal saß er im falschen Bus, aber das war nicht sein Fehler. Eine Vertretung der Schulbegleitung hatte ihn in die falsche Richtung geschickt. Die Nummer vom Bus stimmte immerhin. Ein Kind merkte dann, was los war, und der Stress ging los. Sie fanden Tobias dann an der Endstation in Bischofswerda. Der Busfahrer hatte glücklicherweise Mittagspause und wartete, bis Tobias abgeholt wurde. Ich glaube, ihm hat das gar nichts ausgemacht. Reden kann er leider nicht darüber. Er hätte sich auch nicht selbst helfen können. Glück gehabt!

Die Damen eröffneten mir, dass sie bei Ihren Hospitationen wiederholt festgestellt hätten, dass unsere Schulbegleitung zu viele Aufgaben übernehmen würde, die in den Kernbereich der Schule fallen würden. Das ist die Krux dabei. Macht die Schule nicht genug, bleibt es an der Begleitung „hängen“. Diese sind dann oft sehr engagiert und füllen die Lücke. Dann kommt das Jugend- oder Sozialamt und sagt, geht so nicht, wir zahlen nicht mehr.

Zurück zur Schule. Tobias hatte nun also seine Schulbegleitung. Das erste Jahr war enorm schwierig für alle. Tobias Klassenlehrerin, so hatten wir das Gefühl, wollte mit ihm nichts zu tun haben. Die ganze Arbeit hing an der Begleitung, die auch in der Klasse aus verschiedenen Gründen viel übernehmen musste. Tobias bekam leider keine Chance zu zeigen, wie gut er schon lesen konnte. Eigentlich haben wir häufig im Zeugnis gelesen, dass er einzelne Worte beherrsche. Das trifft es nicht annähernd. Nach der ersten Klasse verließ die Lehrerin die Schule, unsere Begleitung wurde in der Schule Lehrerin und wir bekamen eine neue Begleitung, die wir jetzt immer noch haben. Ich glaube, sie hat sich gut reingefuchst in die Arbeit mit unserem Sohn, obwohl er noch immer häufig nicht mitmacht. Da wir uns aber auch zuhause immer wieder mit Lesen, Rechnen und Schreiben beschäftigt haben, hat er dennoch viel dazu gelernt. Das Fördern zuhause klappt so gut, dass wir, als die Schulen vor einigen Wochen geschlossen wurden, über eine Mutter von der Klassenlehrerin ausgerichtet bekommen haben, dass sie uns ja keine Aufgaben schicken müsste, wir hätten ja genug zuhause. Das war´s. Wenn die Lehrerin in die Whatsapp-Gruppe schreibt, sie hätte alle angeschrieben, dann sind wir bei „alle“ nicht mehr dabei. Exklusiv eben. Inzwischen haben wir ein Entschuldigungsschreiben erhalten.

Ich muss nochmal ein Stück zurückgehen. 2019 stand der Wechsel von der 3. zur 4. Klasse an. Ich stellte wieder meinen alljährlichen Antrag auf Schulbegleitung. Bisher lief nach der gerichtlichen Klärung, allerdings ohne Urteil, die Gewährung der Fortsetzung der Schulbegleitung reibungslos. Ich war also nicht argwöhnisch, als ich ins Jugendamt bestellt wurde. Dort saßen sie dann zu dritt. Praktischerweise wurde die zuständige Mitarbeiterin für Förderschulen schon mit ins Boot genommen. Die Damen eröffneten mir, dass sie bei Ihren Hospitationen wiederholt festgestellt hätten, dass unsere Schulbegleitung zu viele Aufgaben übernehmen würde, die in den Kernbereich der Schule fallen würden. Das ist die Krux dabei. Macht die Schule nicht genug, bleibt es an der Begleitung „hängen“. Diese sind dann oft sehr engagiert und füllen die Lücke. Dann kommt das Jugend- oder Sozialamt und sagt, geht so nicht, wir zahlen nicht mehr.  Das Kind muss an eine Förderschule. Auch bei uns war es also soweit, dass sie sagten, sie würden das jetzt nicht weiter unterstützen. Ich war entsetzt! Ein Jahr vor Ende der Grundschule? Was sollte das?! Also führte uns unser Weg wieder zu unserer Anwältin, so dass Tobias dann weiter in diese Schule gehen konnte, obwohl sich überwiegend die Schulbegleitung um ihn kümmert.

Dann ist da noch die Sache mit dem Schülerausgabensatz, die ich nicht so recht verstehe. Eine freie Schule bekommt für die Aufnahme eines Kindes mit geistiger Behinderung eine Menge Geld. Ich fragte die Schule mehrmals, wofür sie es verwenden. Ich erhielt keine Antwort. Ich erfuhr dann, dass die Schulen damit praktisch machen können, was sie wollen. Das Geld muss nicht direkt dem Kind zu Gute kommen. Da sollte die Politik doch dringend mal drüber nachdenken. Als Ablehnungsgrund für die Fortsetzung der Beschulung führte die Schule genau das an, was im Schulgesetz als steile Vorlage aufgeführt ist, nämlich fehlende sächliche, organisatorische und personelle Voraussetzungen.

Immerhin hat sich die Schule nach den letzten Sommerferien etwas Tolles für Tobias einfallen lassen. Da Tobias nicht mehr so recht in seine 4. Klasse eingebunden werden kann, es geht ja schließlich für die anderen Kinder immer noch um die Bildungsempfehlung, geht Tobias als einziger der Schule klassenübergreifend in die 2., 3. und 4. Klasse. Den permanenten Wechsel schafft er gut. Aber nichts ist einfach. Die Pubertät ging bei Tobias ganz offensichtlich schon mit 10 Jahren los, eine ganz besondere Herausforderung, da er gerne kuschelt und die 2. Klässler wohl auch. Also wurde fortan ein Bogen um die 2. Klasse gemacht.

Angekommen in der 4. Klasse hieß natürlich auch, es wird ernst. Ein Schulwechsel steht an, aber wohin nur? Die jetzige christliche Schule hätte eine Mittelstufe, lehnt unter neuem Vorsitzenden des Schulvereines die Übernahme von Tobias aber vehement ab. Unsere Schulbegleitung wurde öfter schon angesprochen, dass Tobias doch nicht in diese Schule gehöre. Da wir uns bei der Schule noch nicht abschließend zu deren Vorgehensweise geäußert haben, möchte ich hier noch nicht mehr zu unserem Rauswurf sagen. Nur so viel: christlich geht anders.

Am Ende war für uns ausschlaggeben, dass wir unser Kind für keine weiteren Experimente mehr zur Verfügung stellen wollen.

Wir haben im Laufe der Zeit bei verschiedenen Schulen angefragt und uns auch Förderschulen G (geistige Behinderung) angesehen, was für mich sehr schwer war. Die eine Mittelschule hatte bereits ein Kind mit Down Syndrom und fühlte sich alleine gelassen mit den Herausforderungen, die eben manchmal auftreten. Hier müsste über eine Änderung im System nachgedacht werden. Engagierte Leute gehen los und bleiben frustriert zurück. Schade! Gewollt? Eine andere christliche Schule hatte leider nicht genug Platz, um einen Förderraum zu schaffen, wiederum eine andere konnte es personell nicht leisten.

Wir gingen ins Landesamt für Schule und Bildung. Glücklicherweise war mein Mann mit dabei, denn schon wieder saßen sie in der Überzahl dort. Ich bin inzwischen etwas dünnhäutig geworden. Dort, so hatte ich den Eindruck, waren sie auch nicht wirklich auf unserer Seite, zu große Klassen, zu schwierige Kinder, zu viele Helicopter-Eltern uvm. Als ich sagte, in Bautzen wäre hinsichtlich Inklusion noch nicht viel passiert in den letzten 11 Jahren -  oh, da war was los! Es ist sicherlich etwas passiert, denn es gab ja z. B. viele Flüchtlingskinder, die auch in die Schule gehen sollten. Ich kann jedenfalls nicht erkennen, dass sich in unserem Landkreis irgendetwas für Kinder mit geistiger Behinderung verbessert hat.

Es soll auch viele sozial-emotional schwierige Kinder geben, die einen Unterricht manchmal unmöglich machen. Die Lehrer hätten keine Erfahrung und so weiter. Die Damen gaben uns den Tipp, es in einer kleineren Oberschule außerhalb von Bautzen zu probieren, was wir dann auch taten. Tatsächlich wurden wir eingeladen und führten mit tollen Menschen lange Gespräche. Am Ende war uns aber klar, dass eine weitere Beschulung in einer „normalen“ Schule nur ein weiteres Experiment sein würde. Niemand hat Erfahrung. Die Schule wäre wohnortfern. Wie kommt er hin? Wie reagieren die neuen Kinder, die ihn nicht kennen und nicht auf ihn vorbereitet sind? Muss Tobias den ganzen Tag dort aushalten? Wird die Schulbegleitung wieder in vollem Umfang genehmigt und viele Fragen mehr. Am Ende war für uns ausschlaggeben, dass wir unser Kind für keine weiteren Experimente mehr zur Verfügung stellen wollen. Tobias ist anders als die meisten Kinder mit Down Syndrom, die ich kenne. Er spricht, aber irgendwie anders. Er gibt meist keine richtigen Antworten, auch wenn er die Antwort kennt. Manchmal hat er 6 Stunden in der Schule gesessen und nichts gemacht. Er imitiert auch nicht einfach so. Er hat eine Abneigung gegen Knete, Kleber und Co. „Ich mach vor, du machst nach“ funktioniert nicht richtig, wird aber jetzt endlich besser. Wenn er sein Pausenbrot gegessen hat und zum Spielen gehen will, ist die Pause fast rum. 

Es tut gut, willkommen zu sein.

Durch unsere Entscheidung gegen ein weiteres „einzel-inklusives“ Experiment haben wir aber auch etwas gewonnen. Wir haben in der ausgesuchten Förderschule, die allerdings in einem anderen Landkreis liegt, was wieder Beförderungsprobleme mit sich bringt,  mit ihm zusammen hospitiert, allerdings in einer Mittelstufenklasse. Es war eine sehr angenehme Klasse mit einer sehr angenehmen Lehrerin, die uns und unserem Sohn sehr aufgeschlossen und wohlgesonnen war, wie auch alle anderen, die wir dort trafen. Das war ein ganz neues Gefühl. Es tut gut, willkommen zu sein.

In der Klasse gibt es einen Jungen mit Down Syndrom. Als ich sah, dass sie in der Pause nebeneinander und liegenderweise zusammen Autos schoben, habe ich mich sehr gefreut. Es war ein schönes Bild und lässt mich ein bisschen hoffen, dass Tobias vielleicht doch irgendwann einmal so etwas wie einen Freund hat. Bisher gelingt es ihm noch nicht so richtig, seine Welt zu verlassen und mit dem anderen das Spiel des anderen zu spielen. Unsere Babysitterin hat sich hervorragend auf Tobias eingestellt und sie spielen ganz toll miteinander. Leider kann sie zurzeit wegen Corona nicht kommen. Er vermisst sie sehr. Wir auch …

Tobias ist zu schlecht für die „normale“ Grundschule und in der Förderschule überspringt er Stufen?! Ist er jetzt besonders gut gefördert oder das Niveau an Förderschulen so niedrig? Warum spricht da niemand drüber?

Zurück zur Schule. Der Lernstoff der Klasse passte sehr gut zu Tobias. Tobias wird also überraschenderweise nach den Sommerferien, wenn die Schulen wieder geöffnet sein sollten, nicht in die 5. Klasse, sondern in die Mittelstufe wechseln. Ist das nicht irgendwie paradox? Tobias ist zu schlecht für die „normale“ Grundschule und in der Förderschule überspringt er Stufen?! Ist er jetzt besonders gut gefördert oder das Niveau an Förderschulen so niedrig? Warum spricht da niemand drüber? So viele Menschen, mit denen ich rede und leider auch Politiker, Psychologen und Leute aus der Wirtschaft schreiben und sagen immer wieder, dass Förderschulen „diese“ Kinder, besonders gut fördern. Unsere Erlebnisse sprechen da eine andere Sprache. Wir besuchten eine christliche Förderschule an einem anderen Ort.

Dort fragte ich u. a. nach inklusiven Ansätzen. Von der Schulleitung bekam ich folgende Antworten:

  • Unsere Kinder passen nicht für Inklusion. (Entsetzen! Weiß die Leitung, was sie da gesagt hat?!)
  • Wir haben mal mit der Grundschule im Ort zusammengearbeitet, aber die Eltern der Grundschule haben sich beschwert. Daraufhin haben wir das Projekt eingestellt. (Hier wäre auch Elternarbeit und Aufklärung eine Option gewesen. Noch dazu hat sich z. B.  in der Kindergartengruppe von Tobias gezeigt, dass die ganze Gruppe enorm profitiert hat.)

Dann fragte ich nach dem Stellenwert von Lesen, Schreiben, Rechnen in der Einrichtung. Die Antwort darauf war: „Auf Lesen, Schreiben und Rechnen legen wir hier nicht so viel Wert.“

Meine nächste Frage war: „Wie viele ausgebildete Lehrer beschäftigen Sie an Ihrer Schule.“ Die Antwort war, dass es an der Schule keine ausgebildeten Sonderpädagogen gäbe. Wie geht das?! Wissen das die Eltern? Wieso werden die Kinder mutwillig am Lernen gehindert? Warum spricht darüber niemand? Ich habe nach diesem Besuch versucht, mit jemandem aus der Kirche in verantwortlicher Position über das Thema zu sprechen. Ich sprach die Person an, ich rief an, ich schrieb einen Brief. Ich erhielt keinerlei Reaktion. Das war im Sommer 2019.

Der Besuch einer weiteren Förderschule in einem anderen Landkreis eröffnete ähnliche Zustände. Es hat für mich den Anschein, dass die Kinder hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben. Es wird damit argumentiert, dass nicht jedes Kind Lesen lernen könnte. Wenn ich aber sowieso schon nichts erwarte vom Kind, was soll dann herauskommen? Ich habe inzwischen den Eindruck gewonnen, dass behinderte Kinder durch zu niedrige Erwartungen und ungünstige Methoden am Lernen gehindert werden, also behinderter gemacht werden, als sie es eigentlich sind. Aber selbst unter der Elternschaft in unserem Verein gehen die Meinungen an dem Punkt weit auseinander. Bitte nicht falsch verstehen, es geht mir hier nicht um Förderwut, sondern Teilhabe und Eröffnen von Möglichkeiten. Natürlich gehören da auch alltagspraktische Dinge dazu. Bei einem Vortrag von Prof. Dr. Georg Feuser, Erziehungswissen-schaftler, sagte mir eine Förderschullehrerin, dass die behinderten Kinder das in der Schule lernen müssten, weil die Elternhäuser das heute oft nicht mehr vermitteln. Hier offenbart sich ein ganz anderes Problem, das ohne wirkliche Änderungen vermutlich nicht besser wird.

Für Tobias ist es uns jedenfalls wichtig, dass er das lesen kann, was er möchte und erwarte nicht das Verschlingen von Romanen. Wir hatten ein wahnsinniges Erfolgserlebnis. Im Dezember wedelte Tobias mit seiner Zeitung von Thomas und seinen Freunden. Immer wieder sagte er „Thomas Kino“. Ich sagte immer „jaja …“. Irgendwann hielt er mir die Zeitung unter die Nase und tatsächlich lief Thomas dieses Jahr im Januar im Kino. Natürlich waren wir alle dabei!

Es hat doch niemand ein Recht auf ein behinderungsfreies Leben. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass alle Menschen, egal ob behindert oder nicht, teilhaben können.

Ich habe noch keine echte Vorstellung, wie guter inklusiver Unterricht aussieht. Auf jeden Fall stelle ich mir zwei Lehrer vor, die konkurrenzfrei in einem Team arbeiten. Ein Sozialpädagoge bzw. Psychologe müsste auch dabei sein. Dazu gehören z.B. regelmäßige Teamgespräche, bei denen sich alle Beteiligten austauschen. Daran scheitert es oft auch schon.

Unbedingt dazu gehört für mich die Arbeit an und mit inklusiven Werten im Kollegium und der Elternschaft. Dafür kann man das Was-wäre-wenn-Spiel gut verwenden: Wir schlafen ein, ein Wunder geschieht und wir wachen am nächsten Morgen auf und haben plötzlich eine Behinderung. Wie möchte ich dann leben? Wer soll sich um mich kümmern? Wer geht für mich einkaufen? Wer hilft mir mit den Ämtern?

Letztes Jahr habe ich bei der Diakonie in Dresden einen Kurs mit Frau Dr. Cornelia Winkler als Kursleitung zum Thema Inklusionsprozessbegleitung abgeschlossen. Es gibt so wunderbare und vor allem einfache Methoden, an inklusiven Werten zu arbeiten oder überhaupt erst einmal festzustellen, wo man eigentlich steht. Die Kluft zwischen diesem tollen Kurs und der Wirklichkeit ist erschütternd.

Eine Erzieherin sagte mir letztes Jahr, sie hätte ganz erstaunt festgestellt, dass Inklusion ja schon zehn Jahre alt sei. Ja, so alt wie Tobias. Und seitdem warte ich und muss die ganze Zeit mit ansehen, dass sich nichts bewegt. Die Behinderten sind immer die anderen. Es sind ja nicht so viele, man sieht sie ja nicht.

Man sollte darüber nachdenken: Wie viele Menschen sind von Geburt an behindert? Das sind die wenigsten. Die meisten erwerben ihre Behinderung im Laufe des Lebens. Woher wissen wir, dass unsere Kinder gesund durchs Leben gehen? Woher wissen wir, dass wir selbst gesund durch das Leben gehen? Plötzlich stehen wir auf der anderen Seite und sind nicht vorbereitet. Ich bin doch potenziell immer von Behinderung bedroht. Nur weil ich da bin. Das ist den meisten Menschen nicht bewusst.

Es hat doch niemand ein Recht auf ein behinderungsfreies Leben. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass alle Menschen, egal ob behindert oder nicht, teilhaben können. Das wollen wir für uns selbst doch auch. Ich würde mir wirklich wünschen, dass mehr dran gearbeitet wird, auch an dem Verständnis, was Inklusion eigentlich ist. Es geht doch nicht nur um Behinderte. Inklusion = alle! Wie wollen wir als Gesellschaft miteinander leben? Gerade jetzt in der Corona-Zeit wäre es ein toller Zeitpunkt für neue Projekte, z. B. für den Umweltschutz, Schulveränderungen und Änderungen in der Wirtschaft.  

Wir können nicht so weitermachen, wie bisher. Ganz dringend müssen wir überlegen, wie wir als Gesellschaft zusammenleben wollen, wie wir mit unseren Ressourcen, unserem Planeten umgehen und wie er in ein paar Jahren aussehen wird,  wie wir unsere Kinder mit diesen Schulen auf das Leben und die veränderte Welt vorbereiten. Wie soll ein Miteinander entstehen, wenn wir die Menschen sortieren und ausschließen? Es muss mehr Schnittpunkte in der Gesellschaft geben.

Warum fangen wir nicht endlich an?

Interview geführt am: 20.08.2019

Interview veröffentlicht am: 10.05.2020