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Matthias Huber, Leipzig

Wir wollten nicht, dass Audiodeskription am Theater in Leipzig eine einmalige Sache bleibt, weil vielleicht am Ende das Geld fehlt.

Gesichter der Inklusion

Mein Name ist Matthias Huber. Ich bin ausgebildeter Schauspiel-Dramaturg und gebürtig in Rheinland-Pfalz. Ich finde es schon wichtig zu wissen, wo man herkommt, in welchem Raum man aufgewachsen ist und was einen umtreibt. Mein Geburtsort ist Speyer, eine relativ liberale Enklave innerhalb konservativer, dörflicher Strukturen. Dann hat es mich irgendwann wegen des Studiums nach Leipzig verschlagen, an die Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“, Fachrichtung Dramaturgie, erster Jahrgang, Abschluss Diplom-Dramaturg.

Die Vorgabe von Enrico Lübbe war also, das Schauspiel Leipzig in jegliche Stadtschichten hinein zu öffnen – also auch für Menschen mit Behinderungen.

Von 2008 bis 2013 war ich in Chemnitz als Dramaturg unter Enrico Lübbe beschäftigt. Er war dort Schauspieldirektor und ist dann nach Leipzig gewechselt. Und hier fing sozusagen das Thema Inklusion für mich an, weil wir das Schauspiel Leipzig wieder für die Stadtgesellschaft öffnen wollten. Unter Sebastian Hartmann, dem Vorgänger, fand dort eher ein elitäres, monothematisches Theater statt. Das war ganz bewusst so und auch beileibe nicht in allen Punkten schlecht. Die Vorgabe von Enrico Lübbe war also, das Schauspiel Leipzig in jegliche Stadtschichten hinein zu öffnen – also auch für Menschen mit Behinderungen. Ich war dann derjenige, der die Audiodeskription von 2013 bis 2018 am Schauspiel Leipzig leitete und weiterentwickelte.

Das fing mit der Frage an: Wie setzt man so etwas um? Wir haben uns damals von Anke Nicolai aus Berlin beraten lassen. Mit ihr zusammen haben wir AutorInnen ausgebildet, die für uns am Schauspiel Leipzig ein spezielles Repertoire der Audiodeskription aufbauen und vor allem erweitern sollten. Wir wollten nicht, dass Audiodeskription am Theater in Leipzig eine einmalige Sache bleibt, weil vielleicht am Ende das Geld fehlt. Wir wollten eine relativ stabile, autarke Mannschaft vor Ort haben, die flexibel agieren kann. Zu Beginn waren es sechs Personen, mittlerweile ist das Team etwas breiter aufgestellt. Zu dem AutorInnen-Kreis gehören die sehenden Maila Giesder-Pempelforth, Beatrix Hermens, Ina Klose, Florian Eib (der auch schon Teil der Kampagne „Gesichter der Inklusion“ ist) und ich, sowie die blinden bzw. seheingeschränkten Renate Lehmann, Cathi Matthis, Michael Scholz und Pernille Sonne. So können wir als Team dem Schauspiel Leipzig garantieren, dass drei Inszenierungen pro Jahr mit Audiodeskription stattfinden. Pro Inszenierung gibt es dann circa vier Vorstellungen mit Audiodeskription, die über das Jahr verteilt sind. Man hat damit nicht nur einen Termin, sondern kann frei wählen, wann man ins Theater gehen will. Ich muss noch dazu sagen: Es bestand niemals Druck seitens der Intendanz in Leipzig, dass das entsprechende Zielpublikum kommen muss. Das war der große Vorteil.

Für die Audiodeskription suchen wir nach den Lücken im Stück und schreiben dann unser Audioskript.

Es gibt unterschiedliche Arbeitsformen, wie die Texte für die Audiodeskription erstellt werden. In Leipzig arbeiten wir von Beginn an in Dreier-Gruppen, zwei sehende AutorInnen und eine blinde Autorin, die als kreatives Korrektiv von Anfang an beim Schreibprozess dabei ist.

Eine Audiodeskription zu schreiben dauert. Es ist ein klassischer „Nine-to-five-Job“ und das ein paar Tage lang. Für die Audiodeskription suchen wir nach den Lücken im Stück und schreiben dann unser Audioskript. Im Gegensatz zum Film läuft Theater nie identisch ab. Es sind die Pausen, die sich verändern. Es sind wirklich Nuancen. Wie bekomme ich dann in der Live-Situation die Information unter, die ich jetzt gerade nicht untergebracht habe, weil der Schauspieler heute nicht die 20 Sekunden Pause hält. Ist die Information wichtig? Ist sie nicht wichtig? Es ist vielmehr ein Jonglieren mit den Informationen und ein spontanes Abwägen. Das macht die Theater-Audiodeskription nochmal ein bisschen besonders. Man braucht dafür auch besondere Leute. Deswegen haben wir auch AutorInnen geschult, die etwas mit Theater zu tun haben. Die entweder gerne ins Theater gehen oder wissen, was eine Inszenierungsanalyse ist. So muss man über elementare Sachen nicht mehr diskutieren .

Dass die Stücke mit Audiodeskription mit einer solchen Frequenz laufen, quasi wie ein eigenes Repertoire, da ist das Schauspiel Leipzig schon ein Vorreiter im Sprechtheater.

Die erste Stückauswahl haben wir damals mit dem Blindenverband besprochen. Wir haben gefragt: Was könnte denn inhaltlich und vielleicht auch formal interessieren? Das ist ein wichtiger Punkt: Wenn jemand da ist, den man fragen kann, sollte man ihn fragen. So ging es mit „zeitlosen Klassikern“ wie „Emilia Galotti“ los. Für uns ist später die Freiheit entstanden, auch Stücke anzubieten, die vielleicht nicht so zugänglich sind. Wo man sagen kann: Das ist künstlerisch wichtig. Das ist vielleicht auch wichtig für die Leute, die es beschreiben. Es sind dann nicht nur „reine Dialog-Stücke“ zu beschreiben, sondern es geht dann wirklich darum, wie man diese Bildgewalt, die solchen Inszenierungen inne wohnen, beschreiben kann. Wenn auf einmal im Raum zwei Video-Screens unterwegs sind, sich also auch noch bewegen. Dann kommt vielleicht noch Filmmaterial dazu. Also wie viele Ebenen kann man beschreiben? Man muss sich umso mehr entscheiden. Dieser Auswahlprozess ist wichtig. Deshalb kann das auch nicht jeder.

Dass die Stücke mit Audiodeskription mit einer solchen Frequenz laufen, quasi wie ein eigenes Repertoire, da ist das Schauspiel Leipzig schon ein Vorreiter im Sprechtheater. Es ist nicht so, dass das Schauspiel Leipzig das einzige Theater ist, das Audiodeskription anbietet. Aber in der Dauer und der Menge ist es schon spitze. Und die extra ausgebildeten AutorInnen sind ganz wichtig, damit es eben nicht der Dramaturg oder die Dramaturgin nebenbei noch macht. Und es ist sehr wichtig, dass immer die Blinden, die Seheingeschränkten als Referenzperson dabei sind. Es braucht immer diese Referenzperson. Immer.

In Leipzig hatte der Intendant die Idee und hat sie umsetzen lassen. Ich bin der Meinung, wenn jemand eine Idee hat und den Drang hat das zu machen, dann sollte er das tun. Und wenn er das Eine dann umsetzt, dann ist das schon viel. 2018, da war ich dann schon weg, gab es den Ehrenpreis vom Blindenverband Sachsen und den Inklusionspreis Mosaik aus Mitteldeutschland als Sonderpreis der Jury. 2016 wurden wir zu den Inklusionstagen nach Berlin eingeladen. Man merkt wie das streut. Es kommen Leute aus Chemnitz und Zwickau extra nach Leipzig, um die Stücke zu hören. Die reden dann in ihrem Kreis darüber. Dann wird der Kreis aktiv und fragt woanders auch nach: Gibt es hier Audiodeskription? Das finde ich das Schöne: Einer macht es und zieht dadurch andere mit.

Momentan schaue ich, wie wir Audiodeskription weiter verbreiten können. Extra AutorInnen müssen aber eben bezahlt werden. Entweder es bezahlt das Theater selbst, oder es muss Anträge stellen. Jedes Theater hat einen Freundeskreis e.V., die sind perfekte Antragspartner. Technik muss man natürlich auch einkalkulieren, aber die kann man ja ausleihen. In einer Fördersumme von Aktion-Mensch ist eigentlich alles mit drin. Damit bekommen wir die Erarbeitung einer Audiodeskription und dann ein paar Vorstellungen hin. Auf diese Art haben wir auch schon die die Operette „Die Czárdásfürstin“ in Annaberg-Buchholz beschreiben können. Dort war es der dortige Blinden- und Sehbehindertenverband, der es zusammen mit dem künstlerischen Betriebsbüro von Annaberg-Buchholz beantragt und durchgezogen hat.

Seit 2018 bin ich nicht mehr am Schauspiel Leipzig. Seitdem führe ich wieder mehr Regie im Theater. Zusätzlich arbeite ich als Autor für Audiodeskription hauptsächlich am Theater, aber auch für Film und TV. Ich habe Glück, dass ich immer wieder ein paar Aufträge für Filme und TV-Sendungen bekomme. Das ist auch jetzt gerade in der Corona-Zeit rettend. Beim Theater kann leider gerade nichts stattfinden. Das ist sehr schade, da mein Ziel, die Audiodeskription am Theater in Sachsen und auch außerhalb von Sachsen zu verbreiten, gerade nicht mehr vorangehen kann und etwas stockt.

Und ich bekomme langsam Lust weiter zu experimentieren. Was ist überhaupt beschreibbar?

Im November 2019 habe ich eine sehr spezielle Audiodeskription erstellt, zu einer Stückentwicklung mit nur drei Aufführungen im LOFFT.Leipzig. Das bedeutet, dass ich zur Premiere der Perfromance „School of shame“ von Polymora Inc. mit meiner Audiodeskription schon dabei sein musste. Das bedeutet, parallel zum Entstehungsprozess der Performance musste ich mein Audioskript fertigstellen. Deswegen war ich dort alleine als Autor und Sprecher dabei und habe nur für die Endproben Cathi Matthis hinzugezogen, die mir dann als Seheingeschränkte das notwendige Feedback gegeben hat. Sie hat bei den letzten Proben im Publikum gesessen, während ich live eingesprochen habe. Danach haben wir die Kritik gemacht, am nächsten Tag habe ich dementsprechend das Skript verändert. Und am nächsten Tag wieder.

Und ich bekomme langsam Lust weiter zu experimentieren. Was ist überhaupt beschreibbar? Wir waren einmal bei einer Performance, die nur mit Licht und Schatten gearbeitet hat. Wie würde man das beschreiben? Plötzlich hing eine Person an der Decke und hatte sich festgekettet. Es war wie eine Außenreparatur an einem Raumschiff. Das mit dem Raumschiff ist aber dann nur meine Assoziation. Funktioniert die auch für andere?

Oder wie beschreibe ich Tanz? Eigentlich sollte die Performance-Gruppe Polymora Inc. eine Forschungs-Residenz in Köln antreten. Das geht zur Zeit ja leider nicht. Nun machen sie es hier in Leipzig, der Titel ist „wert_frei“. Wir gehen das Experiment ein, dass ich nicht wirklich weiß, was sie machen. Immer am Ende einer Woche bekomme ich die Videos von den Proben und beschreibe diese dann. Mal sehen wie ich es beschreibe und ob das zusammen geht. Auch spannend wird, was ich beim Beschreiben vielleicht noch für Fehler mache. Es geht bei Polymora Inc. auch um Körperlichkeit. Sie haben eine sehr kleine Person dabei, die nur im Rollstuhl fahren kann. Sie haben eine in ihren Bewegungen sehr langsame Person dabei, die außerhalb des Rollstuhls auf Knien vorwärts kommt. Sie haben auch sehr große Personen dabei. In der Forschungsresidenz geht es um Bewertungen, Beschreibungen, Zuschreibungen. Audiodeskription ist ja eine Beschreibung. Das finde ich total spannend.

Mein Ziel ist es, die Bereitschaft für Audiodeskription in den Häusern zu öffnen. Wenn man einmal da war, dann geht es auch weiter. Die Leute vor Ort müssen es nur mitbekommen. Das ist der Punkt. Ein Beispiel: Wir waren mit Polymora Inc. zu einem Gastspiel am Nationaltheater Mannheim, im Studio Werkhaus. Obwohl das nur ein einmaliges Gastspiel und in einer kleinen, alten Spielstätte war, könnte das ein Anfang sein. Ich saß vor einem Monitor auf dem Gang direkt neben dem Bühnenraum. Und neben mir ging immer die Tür auf, weil eine Tür weiter noch der Eingang für die Kneipe war. Das war anstrengend, aber auch so lustig. Mein Publikum hat sozusagen den ganzen Kneipenverkehr mitbekommen. In Mannheim war Herr Graf vom Blindenverband sehr engagiert. E hat Interesse bei 10 Leuten geweckt, die die Audiodeskription nutzten und das bei einem 80 Mann-Saal. Toll! Die tragen es nun weiter. Das ist mein Ziel, dass man viele erreicht, die dann wissen: so kann es gehen. Und mit dem Nationaltheater sind wir nach Corona hoffentlich wieder im Gespräch, wie es weitergehen kann.

Interview geführt am: 14.05.2020

Interview veröffentlicht am: 29.07.2020