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Pier Giorgio Furlan, Ehrenberg CAMO e.V.

Ich sage immer: barrierefreies Theater ist nicht barrierefrei, weil die Toilette erreichbar ist, sondern weil wir keine Barrieren bezüglich behinderten Menschen haben. Wir haben keine Vorurteile. Wir fragen uns nicht, wie wir mit den Leuten umgehen müssen. Wir gehen ganz spontan mit ihnen um.

Gesichter der Inklusion

2000 habe ich dieses Rittergut, mit einer alten Schlossruine, gekauft und ein Kulturzentrum gegründet. Es heißt Förderkreis Centro Arte Monte Onore e.V. Bevor ich hierhergekommen bin, war ich in Berlin. Ich bin Künstler und Architekt. Mein Schwerpunkt ist das Theater und die Maskenbildnerei. In Berlin habe ich mehr mit professionellen Leuten gearbeitet. Ich wollte aber auch schon immer mit nicht professionellen Leuten arbeiten und habe dafür Erfahrungen gesammelt und verschiedene Dinge ausprobiert.

Als ich noch jünger war, war ich in Venedig. Dort gab es das Theaterfestival. Alle möglichen Varianten des Theaters wurden dort gezeigt. Man brauchte nicht in eine Theaterschule gehen, sondern dort einfach nur erleben. Es gab alle Facetten, natürlich auch mit Worten, aber auch viel mit Körpersprache. Es wurden aber auch andere Elemente genutzt. Dort habe ich sehr viel gelernt. Für mich als Künstler war ein Bild zu wenig. Meine Liebe galt aber immer dem Theater. Ich habe mit einer Gruppe in Italien angefangen Theater zu machen, es war damals in den Siebzigern die Zeit der Performance. Aber ich wollte mich weiter ausprobieren. Ich habe mir deshalb einen anderen großen Ort gesucht und bin nach Berlin gegangen.

Berlin war geil. Das war vor der Wende. Ich war in Westberlin und bin auch dort geblieben. Es war damals eine super coole Zeit, denn es gab den Untergrund. Es waren verrückte Zeiten. In Berlin war alles Multikulti. Da kommt ein Italiener aus dem schicken Italien, mit seiner tollen Architektur, nach Berlin und dort sind die Gebäude fast „Schrott“. Ich habe Secondhand-Klamotten in irgendeiner Garage gekauft. Das war klasse und für mich auch eine neue Art zu leben. Und dann kam die Wende. Das war ein bisschen kritisch, weil der Osten immer so ein bisschen herabgestuft wurde. Aber für mich war es sehr schön und man konnte überall hingehen.

Wir entdeckten verschiedene Schlösser in Brandenburg, wo wir Theater spielen konnten.

Ich hatte damals guten Kontakt zum Kulturministerium in Brandenburg. Wir haben versucht Projekte zu machen, vor allem mit Tänzern, die im Prinzip mit ihren 33 Jahren zu alt fürs professionelle Tanzen waren. Ich habe dann zehn Jahre lang mit einem amerikanischen Kollegen Tanztheater gemacht. Es war eine Mischung aus Theater und Ballett. Ich wohnte weiter in Berlin, hatte dort auch ein Atelier. Alles billig, aber schick und „in“. Wir entdeckten verschiedene Schlösser in Brandenburg, wo wir Theater spielen konnten. Brandenburg besitzt sehr viele Schlösser. Die waren damals alle leer und nicht mehr benutzt. Es gab eine Schlösser GmbH, die mit Geld vom Bund diese Schlösser sanierte und anschließend an Leute verpachten wollte. Unser Ensemble, unterstützt vom Kulturministerium aus Brandenburg und in Zusammenarbeit mit der Schlösser GmbH, hat in den verschiedenen Schlössern gespielt. Wir haben z.B. analoge Dia-Projektionen in den Schlössern benutzt. Das war damals ganz modern, heute macht man das ganz anders. Wir haben „Die Schöne und das Biest“ oder „Romeo und Julia“ gespielt.

Die sogenannten „Ossis“ waren total begeisterte Zuschauer, die unsere Kunst offen aufnahmen.

Wir haben in traumhaften Kulissen gespielt. Und wir hatten Publikum. Zwar nicht riesiges Publikum, aber wir waren über jeden Besucher froh. Die sogenannten „Ossis“ waren total begeisterte Zuschauer, die unsere Kunst offen aufnahmen. Sie kannten ja noch nicht viel von Italien. Es war eine tolle Erfahrung für mich. Deshalb wollte ich im Osten bleiben. Hier fand ich es offener und hatte mehr Möglichkeiten. Ich suchte nach einer Ruine und fand  genau diese hier. Geplant hatte ich immer mit den Leuten hier Projekte zu machen. Und so bin ich mit meiner Mappe zur Leiterin der Volkshochschule in Mittweida gegangen. Für die Volkshochschule eigneten sich meine Projekte zwar nicht, aber sie holte fünf Freundinnen zusammen und wir konnten ein erstes schönes Projekt starten. Meine späteren Projekte führten mich auch ins Gefängnis (schmunzelt). Die Arbeit mit den männlichen Gefangenen sollte sich als entspannter erweisen als mit der Frauengruppe. Waldheim hat ein sehr altes Gefängnis. Für mich war es interessant, ob sich die Gefangenen für ein Theaterprojekt überhaupt interessieren. Der Direktor des Gefängnisses war damals sehr offen, und er sagte: „Ja, warum nicht? Wir probieren es aus.“ Also haben wir Theater mit Gefangenen gespielt. Wir wollten ihnen zeigen, dass Theater nicht langweilig ist und es eine größere Palette zu bieten hat. Jeder sollte dafür seine kreativen Ideen einsetzen.

Gut geeignet ist dafür das Maskentheater. Masken sind zuerst einmal ein Schutz. Hinter einer Maske kann man Schauspielen und jemand sein, der man sonst nicht ist. Man kann sehr viel über die Masken projizieren. Durch das Projekt mit dem Maskenspiel hat so mancher Teilnehmer oder Teilnehmerin eine neue Seite an sich kennengelernt. Manchmal kamen dabei auch persönliche Probleme oder Wünsche zur Sprache, also auch eine gewisse psychologische Arbeit. Das erste Projekt war die Traumreise. Und es war tatsächlich eine Reise. Es war sehr interessant für mich. Es ging viel um Freiheit.

Das Erste was die Männer machten, als sie den Ton in die Hand bekommen hatten, war natürlich ein Pimmel. Und da habe ich gesagt: okay, wenn ihr einen Pimmel haben wollt, dann machen wir einen Pimmel. Der wurde dann als Requisite ins Theaterstück mit aufgenommen. Das sind eben erst einmal die Themen im Gefängnis.

Transparenz ist für meine Arbeit sehr wichtig, deshalb gibt es einen guten Kontakt zu den Medien. Auch wenn ich sie vielleicht manchmal eine wenig verrückt gemacht habe. Ich wollte, dass alle wissen, was hier für Projekte laufen. Und das z.B. auch im Gefängnis solche Projekte möglich sind.

Ich hatte damals das Gefühl, als ich diese Ruine erworben habe, dass das hier richtig ist.

Ich hatte damals das Gefühl, als ich diese Ruine erworben habe, dass das hier richtig ist. Ich habe dann noch die Häuser drum herum gekauft. Der Anfang war natürlich nicht einfach. Aber mittlerweile kommen die Leute her und sagen: es ist ein Paradies hier. Dann habe ich angefangen, solche Aktionen wie in Brandenburg auch hier in Ehrenberg zu machen. Das hat sich dann weiterentwickelt, so dass wir immer verschiedene Gruppen mit verschiedenen Aktionen hier auf dem Gelände hatten und haben.

Später 2003 habe ich angefangen, die Gruppen zu integrieren. Wir haben dann auch ein Integrationsprojekt gemacht. Wir hatten hier Gruppen mit behinderten Menschen, Studenten, Schulgruppen oder auch Kinderheime. Oder auch eine Schule aus Tschechien. Es war sehr durchmischt, aber damals noch ohne eine Vernetzung untereinander.  

Beim Tag des offenen Ateliers bin ich vor ein paar Jahren mit einer Frau vom ASB (Arbeiter-Samariter-Bund) ins Gespräch gekommen. Sie betreut schwerbehinderte Menschen, mit denen auch Kunst gemacht wird. Ich habe zu ihr gesagt: lassen Sie uns doch ein Projekt zusammen machen. Und so entstand mein erstes Projekt mit Rollstuhlfahrern. Weil sie es aber nicht hier aufs Gelände schafften, haben wir das Projekt im Schauspielhaus Chemnitz gemacht. Das war das erste Mal für mich. So hat für mich das offizielle Theater hier angefangen.

Damals war viel Publikum da. Die fanden es ganz toll, dass auch Menschen mit Behinderung Theater spielen. Es mussten damals auch alle mitmachen, auch die Betreuer. Denn für mich gilt: alle müssen dabei sein. Niemand ist Helfer, jeder ist Macher. Es sollte sozusagen jeder mitmachen beim Gestalten der Masken und beim Theaterstück natürlich auch. Wir hatten auch Statisten, die ganz in Schwarz gekleidet waren und die Rollstuhlfahrer auf der Bühne geschoben haben. Das sollte aber nicht so im Vordergrund stehen. 

Bei dem Konzert spielen verschiedene Gruppen zusammen, vor allem behinderte Menschen und Musiker. Dieses Konzept hat auch den Inklusionspreis gewonnen. Wir waren sehr beeindruckt.

Und dann war ich mit Petra, der Vorsitzenden des Vereins, zu einem „Traumkonzert“ in Chemnitz eingeladen. Es findet jährlich in der Stadthalle statt. Bei dem Konzert spielen verschiedene Gruppen zusammen, vor allem behinderte Menschen und Musiker. Dieses Konzept hat auch den Inklusionspreis gewonnen. Wir waren sehr beeindruckt. Wir haben dann Kontakt zu Horst Wehner aufgenommen und mit ihm einen Termin bekommen. Er ist Rollstuhltänzer und war damals Schirmherr der Veranstaltung. 

Ich habe ihm meinen Vorschlag unterbreitet, dass ich ein Theaterstück machen möchte, in dem Menschen mit verschiedenen Behinderungen die Hauptrollen spielen. Wenn ich daran denke, bekomme ich gleich Gänsehaut. Er war sofort begeistert und hat geholfen und vermittelt. Er hat mir den Kontakt zur Behindertenbeauftragten in Chemnitz, Frau Petra Liebetrau, vermittelt. Wir haben dann das erste Projekt gemacht – „La Piazza“. Damit sind wir im Tivoli, in Freiberg und im Schauspielhaus Chemnitz aufgetreten. Für dieses Stück haben wir Geld von „Aktion Mensch“ bekommen. „Aktion Mensch“ ist ein sehr guter Fördermittelgeber, mit dem wir schon seit 20 Jahren zusammenarbeiten. 

Ich sage immer: Barrierefreies Theater ist nicht barrierefrei, weil die Toilette erreichbar ist, sondern weil wir keine Barrieren bezüglich behinderten Menschen haben. Wir haben keine Vorurteile.

Das Stück „La Piazza“ ist super gelaufen. Das war eines unserer ersten richtig großen Projekte. 65 Leute haben damals mitgemacht. Jetzt haben wir 120 bei dem Projekt „Marco Polo“. Mit „La Piazza“ haben wir unsere ersten Erfahrungen in der Projektarbeit mit behinderten Menschen gemacht. Und ich bin immer der Meinung, dass man lernen kann. Man muss mit Gefühl arbeiten. Ich sage immer: Barrierefreies Theater ist nicht barrierefrei, weil die Toilette erreichbar ist, sondern weil wir keine Barrieren bezüglich behinderten Menschen haben. Wir haben keine Vorurteile. Wir fragen uns nicht, wie wir mit den Leuten umgehen müssen. Wir gehen ganz spontan mit ihnen um. Im Kopf frei sein, das ist wichtig. Wenn wir z.B. gehörlose Menschen da haben, und der Gebärdendolmetscher ist nicht da, dann kommunizieren wir mit Händen und Füßen. Das geht auch. Bei blinden Menschen ist es der Körperkontakt. Ich sage dann, fass meinen Körper an und merke wie ich mich bewege. Man muss einfach die Erfahrungen machen. 

Nach dem ersten Projekt haben dann die Leute angefangen, sich selber bei uns zu bewerben. Das war interessant und schön. Denn wir wollen, dass neue Leute dazu kommen. Wir hatten z.B. eine Gruppe von der Diakonie aus Hartmannsdorf. Die waren auch große Klasse. Das war ein tolles Zusammenarbeiten mit den Betreuern und mit den Betroffenen. 

Bei all den Gruppen, die bei dem Stück „Marco Polo“ mitgewirkt haben, war es ganz wichtig, dass alle mitmachen. Denn dann entsteht Vertrauen. Auch die Betreuer müssen mitmachen, denn auch die lernen dazu. Ich habe auch extra eine Gruppe von Menschen ohne Behinderung dazu genommen und gesagt: Kommt ihr spielt mit. Es ist mittlerweile eine sehr schöne gemischte Gruppe, immer mehr Leute wollen mitspielen. 

Dass wir es mit unserem Stück und den ganzen Gruppen ins Opernhaus geschafft haben, war ein Traum. Gerade ich als großer Opern-Fan war hin und weg. Es kamen sogar Freunde aus Italien und hatten Tränen in den Augen. Sie haben gesagt, ich sei mit einem kleinen Koffer weggegangen und jetzt bin ich hier im Opernhaus.

Aber das Wichtigste war, dass hinter den Kulissen alle zusammen waren. Das war ein Traum. 

Webseite des Vereins Förderkreis Centro Arte Monte Onore e.V.: http://www.centro-monte-onore.de/

Interview geführt am: 06.06.2019

Interview veröffentlicht am: 30.03.2020