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Sindy Christoph, Dresden & Bautzen

Einschränkungen können sich als wertvoller Vorteil entfalten, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.

Gesichter der Inklusion

Mein Name ist Sindy Christoph. Ich bin in der Oberlausitz geboren und aufgewachsen. Ich wohne auch immer noch dort am gleichen Ort, in derselben Straße. Ich habe ein ganz stabiles sicheres Umfeld. Mein Berufsleben unterscheidet sich aber vollkommen von meinem Privatleben. Es ist sehr vielfältig, und ich lerne viele Leute kennen. Ich bin sehr viel hier in Dresden aber auch in anderen Städten unterwegs. Beruflich ist also sehr viel los.

Gebärdensprache - das macht nicht jeder.

Nach dem Abitur habe ich überlegt, was ich machen möchte. Wir hatten damals in der weitläufigen Verwandtschaft ein gehörloses Pärchen. Um dieses Pärchen haben sich meine Eltern gekümmert. Das war so zu sagen der Zugang zur Gebärdensprache. Im Fernsehen kam damals eine Reportage über Gebärdensprachdolmetscher. Mein Vater hat mir zugetraut, dass ich so etwas könnte. Eigentlich wollte ich immer Lehrerin werden. Deshalb habe ich mich in Dresden an der TU als Berufsschullehrerin für Deutsch, Sport und evangelische Religion beworben. Parallel dazu habe ich mich dann aber auch in Zwickau zum Gebärdensprachdolmetscher-Studium beworben. Und dann hatte ich die Qual der Wahl. Ich entschied mich nach Zwickau zu gehen, weil ich dachte, Gebärdensprache - das macht nicht jeder. Ich wusste eigentlich am Anfang gar nicht, auf was ich mich eingelassen hatte. Dass man nach dem Studium meistens selbstständig ist, war mir zu diesem Zeitpunkt gar nicht bewusst.

Nach meinem Studium bin ich dann wieder nach Hause in die Oberlausitz gegangen. Die Auftragslage war zu dem Zeitpunkt sehr schlecht. 2003 gab es wirklich wenige Einsätze für Gebärdensprachdolmetscher. In dieser Zeit hat mich meine ehemalige Praxisanleiterin angerufen und gefragt, ob ich einer Medizinstudentin dolmetschen würde. Das bedeutet die Seminare und Vorlesungen im Studium zu dolmetschen. Und so bin ich nach Freiburg gegangen. Dort hatte ich eine kurze Testphase. Ich wollte es erst ausprobieren, denn ich hatte gerade erst als Dolmetscherin angefangen und ein Medizinstudium bedeutete sehr viele Fachbegriffe. Es muss ja vor allem auch für die gehörlose Studentin in Ordnung sein. Sie möchte immerhin ein Studium erfolgreich absolvieren. Ich bin dann in Freiburg geblieben und es hat gut funktioniert. Das Gute war, dass wir immer in Doppelbesetzung gearbeitet haben, wenn Veranstaltungen oder Termine mindestens eine Stunde dauerten. Deshalb hatte ich bei jedem Einsatz eine Kollegin an der Seite, die schon mehr als 10 Jahre im Geschäft war. Und das hat mich sehr geprägt. Ich habe sehr viel gelernt. Mittlerweile bin ich selbst Mentorin und biete jungen Berufseinsteigerinnen die Möglichkeit, sich in einem recht geschützten Rahmen auszuprobieren. Normalerweise müssen sich Dolmetscher nach Ihrem Studium auf dem freien Markt bewähren. Ich hatte das Glück, dass ich mich darauf eingelassen habe, die Studentin zu begleiten. Täglich mit erfahrenen Kolleginnen zu arbeiten, das muss man auch wollen, denn es war klar, dass ich wahrscheinlich am Anfang jeden Tag auseinander­genommen und kritisiert werde. Das war definitiv gut für meine Entwicklung. Die Zeit mit der Studentin war sehr intensiv, denn wir haben uns zusammengesetzt und Gebärden entwickelt, vor allem für Fremdwörter. Denn so viele medizinische Fachbegriffe gibt es in der Gebärdensprache nicht. Einfach weil es zu diesem Zeitpunkt noch nicht so viele Personen gab, die das Bedürfnis hatten, medizinische Fachbegriffe zu gebärden. Es ist eine Strategie, gemeinsam mit der betroffenen Person, interne Gebärden für bestimmte Begriffe zu entwickeln. Man kann z.B. das Wort buchstabieren, dazu nutzt man das sogenannte Daktyl-Alphabet (Fingeralphabet). Man kann aber auch andere Formate nutzen. Wenn man weiß, was es ist, kann man es auch umschreiben. Aber im Fall der Studentin musste ich natürlich konkret sein.

In meiner Funktion als Dolmetscherin für die Studentin war ich freiberuflich tätig und wurde vom Sozialamt bezahlt. Das habe ich ein paar Jahre gemacht – bis zu meiner Schwangerschaft. Das war der Grund, wieder in meine Heimat zurückzukehren. So richtig lief das dann hier aber mit dem Dolmetschen nicht an. Das Thema Inklusion war noch nicht so präsent wie jetzt, und die Emanzipation der Gehörlosen war noch nicht so fortgeschritten. Aber ich wollte schon gern hier in Sachsen bleiben. Und so bin ich wieder zur Pädagogik gekommen. So schließt sich der Kreis, denn ich habe noch einen Abschluss als Berufspädagogin gemacht.

Momentan übe ich beide Berufe aus und das erfüllt mich unwahrscheinlich. Es macht mich glücklich, dass ich meine Sprachkenntnisse und Fähigkeiten mit der Pädagogik verbinden kann. Ich bin nicht nur in der Erwachsenenpädagogik tätig, sondern begleite auch Kinder in ihrer Entwicklung.

2010 haben wir das Netzwerk für Gebärdensprachdienstleistungen „vigevo“ gegründet. Mittlerweile sind wir sieben freiberufliche Dolmetscher, wobei wir aber mit Dolmetschern aus ganz Sachsen und über die Landesgrenzen hinaus zusammenarbeiten. Wir haben uns damals gegründet, weil wir gemerkt haben, dass es kulturelle Angebote für Menschen, die Gebärdensprache benötigen, gibt, diese aber sehr schwer zu finden waren. Deshalb haben wir die Entwicklung einer Homepage beauftragt, wo diese ganzen Angebote sichtbar sind. Wir wollten damit verschiedene Zielgruppen erreichen, nicht nur Menschen, die gehörlos sind.

Ich sehe das so: Viele gehörlose Menschen, aber auch andere Menschen mit Einschränkungen, haben in ihrem Leben zu wenig Chancen bekommen. Sie könnten viel mehr.

2012 habe ich dann noch einen Geschäftszweig eröffnet, der nannte sich „Scouts - Die Kompetenzentwickler“. Da ging es um Erwachsenenbildung und um Team-Trainings für Unternehmen. Am Anfang war das ohne den Fokus auf Gebärdensprache. Lediglich Kollegenseminare für bilinguale Teams hatten Berührungspunkte zur Gebärdensprache. Sogenannte Kollegenseminare sind Schulungsangebote für Unternehmen, wo gehörlose Menschen und hörende Menschen zusammenarbeiten. Das funktioniert nicht immer reibungsfrei. Dort habe ich Mitarbeiter geschult und Teamtrainings angeboten, sodass die Kollegen besser miteinander interagieren können. Diese Dienstleistung bieten wir bis heute an. Nach einer ganzen Zeit haben wir im Netzwerk festgestellt, dass wir gehörlose Dozenten brauchen, da der Bedarf an Gebärdensprachkursen nachgefragt wurde. Wir benötigen Gehörlose, denn das nur wir als Hörende über Gehörlose sprechen, ist einfach vermessen. Ich finde, gemeinsam kann man hier viel mehr erreichen, wenn man beide Perspektiven kombiniert. Anfang 2016 habe ich zwei gehörlose Personen eingestellt. Und so war der Geschäftszweig „Scouts - Gebärdensprache für Alle“ geboren. Uns gibt es nun schon fast 5 Jahre. Mittlerweile sind bei Scouts neun Mitarbeiter tätig, Tendenz steigend. Wir sind aktuell vier gehörlose und fünf hörende Mitarbeiter. 

Ich sehe das so: Viele gehörlose Menschen, aber auch andere Menschen mit Einschränkungen, haben in ihrem Leben zu wenig Chancen bekommen. Sie könnten viel mehr. Ich möchte mich dafür einsetzen, dass die Chancen schon frühzeitig erkannt werden. Wir bieten z.B. auch Frühförderung für gehörlose Kindern und Gebärdensprachkurse für die zumeist hörenden Eltern an. Aktuell ist es so, dass man oft viel zu spät zu uns Kontakt aufnimmt. Die betroffenen Kinder sind meist schon 4 Jahre alt oder älter. Gerade Kinder in der Vorschulzeit werden zu uns verwiesen, weil erst dann festgestellt wird, dass es Probleme in der Interaktion und Kommunikation gibt. Dort müsste viel früher mit der Gebärdensprache begonnen werden. Es gibt Eltern, die sich sehr früh für einen Cochlea Implantat (CI) entscheiden. Darüber möchte ich nicht urteilen, dazu gibt es viele kontroverse Diskussionen. Aber für mich ist es wichtig, den parallelen Ansatz zu wählen und die Gebärdensprache ebenfalls zu lernen. Denn das ist die Basis-Sprache für Menschen mit hochgradigem Hörverlust. Man weiß nicht, ob das CI funktioniert oder nicht. Aus diesem Grund ist es erforderlich, ganz früh mit der Gebärdensprache zu beginnen. Es ist kein Nachteil, vor allem in den jungen Jahren parallel mehrere Sprachen zu lernen. Das ist eines unserer größten Ziele, so frühzeitig wie möglich Gebärdensprache in die Familien zu bringen. Auch die Eltern sollten Gebärdensprache erlernen. Denn nur dann haben die Kinder echte Chancen.

Um Gebärdensprachkurse in den Familien anzubieten, gehen wir unterschiedlich vor. Oft gehen wir in die Familien oder in die Kindertagesstätten, manchmal kommen die Familien auch zu uns hierher. Die Kostenträger für diese Kurse sind unterschiedlich. Wir unterstützen die Eltern bei der Beantragung. 

Ärzte sind immer noch sehr fixiert auf den Höransatz, anstatt auf den Sprachansatz. Sprache muss nicht immer etwas mit Hören zu tun haben.

Wir bieten Kurse für Kinder, die schwerhörig oder gehörlos sind, aber auch Kurse für Kinder, die nicht sprechen können. Außerdem bieten wir viele Erwachsenenkurse an. Wir sind z.B. an der TU Dresden und geben Seminare für Sozialarbeiter und Erzieher. Es gibt auch Eltern-Kompaktkurse. Wir bringen die Eltern zusammen, damit sie sich austauschen können. Wir organisieren gemeinsame Familientreffen.

Ärzte sind immer noch sehr fixiert auf den Höransatz, anstatt auf den Sprachansatz. Sprache muss nicht immer etwas mit Hören zu tun haben. Eltern werden ja prinzipiell immer erst von Ärzten beraten und diese versuchen das Hören zu etablieren. Die wenigsten Mediziner sagen: Kümmern sie sich doch parallel auch noch um die Gebärdensprache, das hilft ihrem Kind. Denn je eher man mit der Gebärdensprache anfängt desto besser.

 Hier in Dresden kooperieren wir sehr gut mit dem CI-Zentrum. Dort werden die CI-Implantate eingesetzt. Die Vernetzung wird immer besser, aber man muss es natürlich aktiv vorantreiben. Man sollte viel Empathie den Eltern gegenüber aufbringen, die sich mit Gebärdensprache zumeist noch nicht so auseinandergesetzt haben und vielleicht finden, dass es komisch aussieht. Denn mit Gebärdensprache wird Gehörlosigkeit erst sichtbar. Man muss deshalb sehr sensibel mit den Eltern umgehen und entsprechend aufklären. Das ist alles kein Automatismus, sowie Inklusion auch kein Automatismus ist. Es muss sich alles entwickeln und es müssen auch alle mitmachen. 

Inklusion für Gehörlose ist Segen und Fluch zugleich. Denn wenn man keine Interaktionspartner hat, mit wem will ich mich dann unterhalten?

Die Kinder, die inklusiv betreut werden bzw. inklusiv in Einrichtungen sind, können sich kaum mit ihresgleichen austauschen. Denn in den Einrichtungen vor Ort ist nur selten ein Kind, welches auch gehörlos ist. Inklusion für Gehörlose ist Segen und Fluch zugleich. Denn wenn man keine Interaktionspartner hat, mit wem will ich mich dann unterhalten? Es ist zwar nett, dass das Kind mit einer Assistenz irgendwo im Kindergarten ist. Die Assistenz ist aber nicht die ganze Zeit anwesend. Und wichtig ist auch die Kommunikation zwischen den Kindern untereinander. Deshalb gehen wir auch in die Einrichtungen und versuchen alle mitzunehmen. Wir entwickeln Strategien, die nachhaltig vor Ort wirken können. Es wird nicht nur das Kind, was gehörlos ist, eingebunden, sondern alle drum herum. Denn das Kind, was gehörlos ist, kann sich sprachlich kaum anpassen. Es ist nun einmal gehörlos. In einem bilingualen Kindergarten, z.B. in einem wo Deutsch und Sorbisch gesprochen wird, ist es was ganz anderes. Dort können alle hören, und es kann miteinander verbal interagiert und kommuniziert werden. Bei einem gehörlosen Kind müssen sich alle öffnen und anpassen. Das ist eine wichtige Säule für eine funktionierende Inklusion.

In den Kinderkursen verwenden wir spielerische Methoden. Eine wichtige Voraussetzung ist, dass der Dozent gehörlos ist. Sobald ein gehörloser Erwachsener in die Situation kommt, sind die Ansprüche und Forderungen ganz anders. Da wird dann plötzlich anders interagiert. Insbesondere bei Erwachsenen hörenden Personen. Und schon alleine wenn ein gehörloser Dozent die Schulung macht, verändert sich das Bewusstsein für Gehörlosigkeit der zumeist hörenden Teilnehmer unheimlich. 

Neben den Kursen produzieren wir Gebärdensprachvideos für Webseiten und barrierefreie Angebote, wie Führungen in Museen. Wir erstellen unser Kursmaterial fast vollständig selbst, denn es gibt nur eine geringe Auswahl an Material, was wir nutzen könnten. Gebärdensprache hat, wie jede andere Sprache auch, verschiedene Dialekte. Es gibt vielleicht ein ganz tolles Buch, was wir verwenden könnten. Aber wenn dort ein anderer Dialekt dargestellt wird, ist es schwierig für die Umsetzung der Kurse hier vor Ort.

Die Grammatik der Gebärdensprache ist eine ganz andere, als die der gesprochenen Sprache. Deshalb reichen Texte in deutscher Sprache nicht aus, um für alle gehörlosen Menschen nutzbar zu sein.

Dialektale Unterschiede erkennt man an unterschiedlichen Gebärden. Eine Dozentin aus unserem Kreis hat mal recherchiert, dass es für die Farbe „gelb“ in Deutschland 36 verschiedene Ausführungen geben soll, sie zu gebärden. Trotzdem können sich gehörlose Erwachsene untereinander trotz Dialekt unterhalten. Wenn man etwas nicht verstanden hat, dann fragt man einfach nach. Ein Beispiel ist das Wort „zeitig. „Zeitig“ ist eher eine ostdeutsche Gebärde und wird in anderen Teilen der Republik als „früh“ gebärdet

Die Grammatik der Gebärdensprache ist eine ganz andere, als die der gesprochenen Sprache. Deshalb reichen Texte in deutscher Sprache nicht aus, um für alle gehörlosen Menschen nutzbar zu sein. Zudem kommt es natürlich auch auf die Schulbildung und Sozialisation der gehörlosen Person an. Haben sie einen sehr guten Wortschatz, dann funktioniert das ganz gut. Diese Menschen können dann meistens auch ganz gut von den Lippen „ablesen“. Viele denken, dass von den Lippen „ablesen“ gar kein Problem ist. Man kann jedoch nur 30% von den Lippen ablesen und zudem setzt es eine gute Deutschkompetenz des „Lesenden“ voraus.  

Eine gute Schulbildung ist zudem auch eine wichtige Grundlage, um Deutsch als Schriftsprache zu verstehen oder vom Mund abzusehen. Das Thema Schule für Gehörlose ist momentan ein großes Diskussionsthema. Es gibt zu wenig Pädagogen, die eine hohe Gebärdensprach-Kompetenz haben. Es gibt selbst Schulen für gehörlose Kinder, in denen nur wenige Pädagogen Gebärdensprache beherrschen.

Man muss sich bewusst machen, dass man im Setting nur der Dolmetscher ist, und nur zu dolmetschen hat. Die eigene Meinung ist während des Dolmetschens nicht gefragt.

Als Dolmetscher ist man in einer gewissen “Machtposition” gegenüber dem Gehörlosen. Das darf nicht ausgenutzt und falsch angewendet werden! Man muss sich bewusst machen, dass man im Setting nur der Dolmetscher ist, und nur zu dolmetschen hat. Die eigene Meinung ist während des Dolmetschens nicht gefragt. Aus meiner Sicht sollte man als Dolmetscher mit Hürden, wie schlechtes Hören in der Situation oder bei nicht verstandenen Inhalten transparent und offen umgehen. Lieber noch einmal nachfragen, wenn man etwas nicht verstanden hat. Durch die Simultanität ist das Dolmetschen ein anstrengender Prozess. Dolmetschen ist eine flüchtige Dienstleistung. Nur der Erfolg des Einzelnen ist das Ergebnis dieser Flüchtigkeit.

Als Gebärdensprachdolmetscher ist es weniger üblich sich zu spezialisieren, wie beispielsweise Konferenzdolmetscher für gesprochene Sprachen. Unser Einsatz ist in unterschiedlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Mein Kollege und ich, wir dolmetschen seit vielen Jahren gern in politischen Settings. Das bereitet uns Freude. Vor allem politische Bildung für alle Menschen interessiert uns sehr. Es ist schön, wenn wir uns in diesem Rahmen mit unserem Dolmetschen unterstützen können. Aber ansonsten sind Gebärdensprachdolmetscher in zahlreichen Bereichen tätig. Das reicht von der Geburt bis zur Beerdigung.

Im Bereich Gebärdensprachdolmetschen habe ich schon das Gefühl, dass die Nachfrage größer wird. Es interessieren sich mehr Leute für Inklusion, z.B. auch in Verbänden, Parteien oder Ministerien. Da sind wir natürlich immer noch nicht am Ende der Möglichkeiten angelangt. Die UN-Behindertenkonvention war ein Anstoß. Durch den gesetzlichen Druck gibt es einen gewissen Flow, der mir aber noch viel zu langsam ist. Dennoch gibt es Institutionen, für die das Buchen eines Gebärdensprachdolmetschers für eine Veranstaltung selbstverständlich ist. Das ist schon eine gute Entwicklung. Ich achte darauf, unsere Kunden gut zu beraten. Es ist mir wichtig, kein Überangebot zu schaffen, damit finanzielle oder personelle Ressourcen gespart und keine Mittel verschwendet werden. Ich denke dabei an eine Tagesveranstaltung, bei welcher 8 Dolmetscher gebunden waren, jedoch kein einziger Gebärdensprachnutzer an der Veranstaltung teilnahm. An anderer Stelle hätte man uns gebraucht. Selbstverständlich sollten Gebärdensprachnutzer jede Veranstaltung besuchen dürfen, ohne sich gesondert mit seinem Zusatzbedarf anzumelden. Das kann ich absolut verstehen. Ich betrachte hier die Gesamtsituation. Es geht nicht nur um die Ressource Dolmetscher, sondern auch um finanzielle Mittel, die bereitgestellt werden müssen. Es ist wirklich eine Gratwanderung und bedarf Verständnis aber auch Bereitschaft von allen. Manchmal braucht es vor allem schnelle unkonventionelle Lösungen, um Barrieren abzubauen und Inklusion zu erreichen.

Ich habe das Gefühl, dass Inklusion im ländlichen Raum teilweise sogar noch mehr gelebt wird, als hier im städtischen. Weil man sich auf dem Land wahrscheinlich schon immer so behilft. Weil man sich untereinander kennt. Was aber auf dem Land fehlt, ist die Infrastruktur. Ich merke das auch beim Thema Gebärdensprache. Hier in Dresden sind wir mittlerweile angekommen und werden angenommen. Aber z.B. in der Oberlausitz, da müssen doch rein statistisch irgendwo noch Kinder versteckt sein, die gehörlos sind. Die brauchen doch auch ihre Chancen. Ich möchte diese Kinder finden.

Es geht mir darum, die Beeinträchtigung eines Menschen als wertvoll anzusehen und genau deshalb bei Menschen Potentiale zu entdecken, Chancen zu ermöglichen, um versteckte Fähigkeiten zu fördern.

Während der ersten Coronawelle habe ich noch ein Unternehmen gegründet, ein gemeinnütziges Unternehmen. Das war ein lang gehegtes Ziel, welches ich im ersten Lockdown angegangen bin. Das Unternehmen heißt Spektrum:Mensch gGmbH. Ich möchte mit diesem Unternehmen nicht nur gehörlose Menschen, sondern noch weitere Experten in eigener Sache einbinden und mit Angeboten eine Vielzahl von Menschen in schwierigen Lebenslagen erreichen. Es geht mir darum, die Beeinträchtigung eines Menschen als wertvoll anzusehen und genau deshalb bei Menschen Potentiale zu entdecken, Chancen zu ermöglichen, um versteckte Fähigkeiten zu fördern. Einschränkungen können sich als wertvoller Vorteil entfalten, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.

Viele fragen mich, wo ich meine Energie her nehme. Einerseits ist es das stabile Umfeld, das ist meine Familie. Zudem gehe ich regelmäßig und gern laufen als Ausgleich zum Berufsalltag. Ich habe viele tolle Menschen, mit denen ich zusammenarbeiten darf. Ich sage immer: der Scouts Laden funktioniert nur, weil es eine gute Mannschaft ist, ein offenes und ehrliches Team. Das treibt mich an und das macht mich glücklich bei dem was ich tue.

Webseite von Scouts - Gebärdensprache für alle: www.ihre-scouts.de

Webseite vigevo - Das Netzwerk für Gebärdensprachdolmetscher: http://www.vigevo.de/

Interview geführt am: 16.07.2020

Interview veröffentlicht am: 19.01.2021