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WG 6plus4, Dresden

Mein Mitbewohner Jens hat mal gesagt: das Tolle an der WG ist, dass jeder für jeden da ist. Und so empfinde ich das auch.

Gesichter der Inklusion

René: Mein Name ist Rene. Ich bin fast 30 Jahre alt. Ich wohne seit 2 Jahren in der WG. Ich war ein Gründungsmitglied dieser WG. Ich hatte zuerst nach anderen Wohnformen gesucht, z.B. Wohnheime. Das war nicht wirklich so der Bringer, da ich alles schon kann. Ich kann auch wunderbar mit Geld umgehen. Teilweise hilft mir mein Betreuer. Wenn es um größere Anschaffung geht, muss ich das mit ihm regeln. Ansonsten kann ich das Geld selber verwalten. Dann gab es noch Außenwohngruppen. Das war schon die richtige Richtung. Zwischendurch habe ich einen Kurs zum Wohnen in einer WG gemacht. Da war auch Herr Christian Stoebe dabei, der das organisiert hat. Irgendwann hat Herr Stoebe bei meiner Mutti angerufen und gefragt, ob ich immer noch auf der Suche nach einer WG wäre. Und ob ich Interesse an einer inklusiven WG hätte. Das klang für mich gut. Da haben wir uns zusammengesetzt und weitergesucht, wer noch mitmachen könnte. Auf einer Reise der Lebenshilfe habe ich Jens wiedergetroffen. Ich habe Jens gefragt, ob er es sich vorstellen könnte zusammen mit mir eine inklusive WG zu gründen. Er hat „Ja“ gesagt. Dann haben wir seinen Eltern Bescheid gesagt. Die haben dann auch „Ja“ gesagt. Wir  haben  noch weitergesucht, wer noch mitmachen könnte. Nach und nach haben wir alle gefunden. So ist auch Max dazu gestoßen.

Das Schicksal wollte dann, dass ich das derzeit einzige ostdeutsche inklusive Wohnprojekt hier in Dresden finde.

Max: Bei mir war es so, dass ich im Jahr 2016 eine neue Wohnung gesucht habe und dieses Konzept des inklusiven Wohnens schon kannte. Damals hieß es nicht inklusives Wohnen. Aber es war schon eine Lebensgemeinschaft von Menschen mit und ohne Handicap und zwar in Bologna. Da habe ich ein Jahr gelebt und gearbeitet. Dort in Italien habe ich diese Lebensform beim Bundesfreiwilligendienst kennengelernt. Als ich wieder nach Dresden kam, war ich ganz traurig, dass es so etwas in Dresden nicht gibt. Ich bin nach Dresden gekommen, um  Lehramt für Deutsch und Geschichte zu studieren. Das Schicksal wollte dann, dass ich das derzeit einzige ostdeutsche inklusive Wohnprojekt hier in Dresden finde.

René: Ich arbeite in einer Werkstatt für behinderte Menschen im Bereich Montage. Zurzeit fülle ich beispielsweise Gewürze ab. Aber ich falte auch Kisten oder bestücke sie auch.

Meine Mutti ist auch Betreuerin hier in der WG. Wenn ich z.B. zum Arzt musste, musste sie immer etwas unterschreiben. Das Gesetz war halt so. Aber jetzt ist das Gesetz nicht mehr so drastisch.

Max: Die bürokratischen Hürden waren hoch.

Wir haben in der WG einen Haushaltsplan.

René: Aber jetzt ist es nicht mehr so schlimm. Ich kann auch selber entscheiden, wann ich abends ins Bett gehe. Ich bin auch schon mal 01:00 Uhr ins Bett gegangen. Es sind ja eigentlich keine Betreuer  sondern Assistenten in der WG. Sie assistieren uns.  Sie bestimmen nicht. Ich kann selber entscheiden. Ab 13:00 Uhr kommt beispielsweise eine Assistenz für eine Mitbewohnerin. Ab 15:00 Uhr kommt noch eine andere Assistenz. Immer gestaffelt. Maximal sind drei Assistenzen da. Es ist dann so geregelt, dass derjenige Vorrang hat, der einen Termin hat. - Wenn ich z.B. mein Zimmer aufräumen soll, dann kann ich das auch selber machen. Das dauert dann oft ein bisschen länger. Manchmal sieht mein Zimmer ein bisschen chaotisch aus. Aber heute ist es aufgeräumt. Es ist noch nicht ganz fertig.  Aber gut.

Wir haben in der WG einen Haushaltsplan. Die Bäder oben und die Bäder unten sind getrennt. Dann haben wir einmal das Kehren im Hausflur. Wischen ist extra. Dann haben wir den Küchendienst. Der muss alles, was auf dem Tisch ist, abräumen. Wir haben drei Tische, also drei Tischdienste. Dann haben wir noch den Küchenchef. Der bestimmt welches Essen auf den Tisch kommt. Am Dienstag setzen wir uns zusammen. Dort wird gesagt, wer wann für den Küchendienst Zeit hat. Ich z.B. habe am Samstag Zeit. An dem Tag muss ich dann auch einkaufen gehen. Nicht nur die Produkte für das Abendessen, sondern auch wenn etwas anderes fehlt.

Wir sind in der WG zehn Menschen, sechs Menschen mit Handicap und vier ohne Handicap.

Max: Ich bin zu allererst Mitbewohner dieser WG. Ein Kumpel, Freund, den man ansprechen kann. Einmal die Woche übernehme ich aber die Nachtbereitschaft, d.h. ich übernehme das Bereitschaftstelefon. Ich kann dann in der Nacht jederzeit angerufen werden bzw. es kann auch jederzeit an meine Tür angeklopft werden. Wir sind in der WG zehn Menschen, sechs Menschen mit Handicap und vier ohne Handicap. Die vier übernehmen jeweils einmal in der Woche die Nachtbereitschaft.  Die Bewohner genießen an den vier  Tagen auch mal für sich ganz selbstständig zu sein. Die restlichen Nächte werden wir von einem Assistenzdienst der Lebenshilfe unterstützt. Es gibt auch ein Assistenzdienstzimmer, wo der Assistenzdienst die drei  Nächte schlafen kann. Ja, die Wohnung ist 300qm groß.

Ich übernehme eine Nacht pro Woche die Bereitschaftsassistenz und einmal im Monat die Freizeitassistenz, weil wir uns als WG vorgenommen haben, irgendwas zusammen zu machen.

Das Tolle an der WG ist, dass jeder für jeden da ist.

Mein Mitbewohner Jens hat mal gesagt: Das Tolle an der WG ist, dass jeder für jeden da ist. Und so empfinde ich das auch. Wir kochen zusammen. Wir haben zusammen Spieleabende, wir haben Filmabende. Aber wir haben eben auch die Momente, in denen sich jeder mal zurückziehen kann und eben nicht die ganze Zeit in der Gemeinschaft ist, sondern auch mal für sich sein kann. Dieses Beisammen sein und trotzdem auch für sich sein. Die Gemeinschaft zu haben und trotzdem auch Privatsphäre, das finde ich toll und schätze es an der WG: Ich habe in meinen Mitbewohnern gute Freunde und Weggefährten entdeckt.

Was immer noch schwierig ist, ist das Verständnis wie das Leben in einer inklusiven WG ist. Ich werde oftmals gefragt, ob ich denn mein eigenes Zimmer hätte, ob wir alle in einem Raum schlafen. Oftmals wird angenommen, dass ich die ganze Zeit Assistent für meine Mitbewohner bin. Da muss ich immer wieder sagen: ich bin zuallererst selbst Mitbewohner. Es geht aber nicht nur um das Verständnis meiner Mitmenschen, sondern auch um das der Behörden. Denn die Gelder für das  Ganze müssen natürlich durch das Sozialamt bewilligt werden. Das braucht immer noch viel Geduld von den Eltern, die jedes Jahr einen Marathon durchlaufen, um diese Gelder zu beantragen. Es ist ein bisschen schwierig, da diese Wohnform beim Sozialamt noch nicht so bekannt  und daher das Verständnis von manchen SachbearbeiterInnen noch nicht so groß ist. Deswegen wollen wir diese Wohnform der inklusiven WG bekannter machen. Wir wollen Barrieren abbauen, so dass sich auch andere Menschen für diese Wohnform interessieren und sich auch selber vorstellen können, das eigene Kind in so eine Wohnform zu geben. Oder sie gründen selbst auch eine WG.

Eigentlich haben wir das „Mensch mit Behinderung wächst in seiner Familie als gleichberechtigtes Mitglied auf“ nur übertragen auf eine Mitbewohnerschaft, auf eine freundschaftlich, kollegiale Ebene. Aber weg von dieser Sonderwelt, dass wir alle Behinderten in ein Behindertenheim abschieben. Die Heime und WGs,  in denen ausschließlich Menschen mit Handicap wohnen, haben auch ihre Berechtigung. Aber das Behindertenheim sollte eben nur eine Option von vielen sein bei der Auswahl des eigenen Lebensweges. Menschen mit Handicap sollen die Entscheidungsfreiheit haben, wo sie wohnen möchte. Der Punkt der Selbstbestimmung ist mir hier sehr wichtig. Hier in der WG ist es eben nicht der Assistenzdienst, der den Tag strukturiert, der bestimmt, was wann zu machen ist. Es ist die Bewohnerrunde, die sich jeden Dienstag um 18:30 Uhr zusammensetzt und darüber bestimmt: Wie wollen wir zusammenleben? Wollen wir den Putzplan umstrukturieren? Welche Gardine wollen wir an ein Fenster hängen? Oder, wo soll der nächste WG-Urlaub hinführen? Wir waren letztes Jahr alle zusammen in Italien, in Bologna. Wir haben dort auch meine ehemaligen Wohngemeinschaft, meine Comunita, besucht.

Wir sind in einem Netzwerk, das nennt sich „WOHN:SINN“.  Das ist ein bundesdeutscher Verband aller inklusiven WGs in Deutschland.

René: Da wollten wir in 3 Wochen hinfahren, auf ein Treffen in Berlin.

Max: Dort treffen sich alle inklusiven WGs Deutschlands. Wenn man das auf der Karte sieht, sind das wesentlich mehr inklusive WGs in den westlichen Bundesländern. Trotzdem haben wir natürlich auch das Bestreben, dass diese Wohnform auch in Ostdeutschland, in Sachsen Fuß fasst – in Dresden, in Leipzig, in Chemnitz – wer weiß. In Berlin haben sich jetzt die ersten inklusiven WGs gegründet.

René: Ich wünsche mir auch, dass es in Ostdeutschland mehr inklusive WGs geben soll. Das ist manchmal auch schwierig wegen der Anträge. Aber das kann man eigentlich schaffen. Ich selber habe die Vorstellung, dass ich irgendwann mit meiner Freundin zusammen ziehe. Ich habe eine Freundin, aber sie wohnt nicht hier, da ich sie erst später kennengelernt habe. Wenn in Dresden noch eine inklusive WG gegründet wird, könnte ich vielleicht dort mit ihr einziehen. Ich könnte mir auch gut eine inklusive Paar-WG vorstellen, dass mehrere Paare zusammen wohnen.

Max: Für meine persönliche Zukunft freue ich mich jetzt erstmal darauf, mein Lehramtsstudium zu Ende zu führen und hoffentlich dann auch an einem Gymnasium in Dresden bleiben zu können. Das ist ja beim Referendariat immer ein bisschen schwierig, ob das funktioniert oder nicht. Deswegen hoffe ich, das funktioniert, um auch hier wohnen bleiben zu können.

Ich wünschte mir noch ein Stück mehr Selbstverständlichkeit in punkto Integration von Menschen mit Behinderung in den Alltag.

René: Mit meiner Arbeit bin ich zufrieden. Ich bin jetzt auch neu zum Werkstattrat dazu gestoßen. Wir vertreten die anderen Mitarbeiter. Irgendwann würde ich gern einen Außenplatz der Werkstatt haben. Das ich sage, okay, die nehmen mich. Und wenn es irgendwann doch nicht mehr klappt, dass ich dann wieder in die Werkstatt zurück könnte, d.h. dass mein Platz nicht weg ist, sondern als Schutzmaßnahme, wenn es nicht klappen würde.

Von November bis Ende März fahre ich mit dem Fahrdienst in die Werkstatt. In den Sommermonaten fahre ich mit der Straßenbahn und dem Bus. Das dauert ungefähr 30 min. Ich fahre mit zwei Straßenbahnen und dann gibt es einen Pendelbus zu unserer Werkstatt. Auf dem Rückweg laufe ich manchmal zum öffentlichen Bus, da der Pendelbus oft zu voll ist. Da will ich nicht warten.

Ich habe auch noch Physiotherapien und Ergotherapien. Dort mache ich Koordinationstraining und  Muskelaufbautraining. Ich brauche das, da meine Muskeln wegen meiner Gewebeschwächeerkrankung, das Marfan Syndrom, etwas schwächer sind. Deswegen habe ich auch die langen Finger.

Neben dem Marfan Syndrom habe ich auch noch eine geistige Behinderung. Physiotherapie ist zweimal in der Woche. Immer montags und donnerstags. Boccia ist auch donnerstags, aber ich habe es so gelegt, dass es klappt. Boccia mache ich noch freizeitmäßig von der Lebenshilfe aus. Turniere gibt es sehr selten. Große Turniere gibt es alle vier Jahre, das heißt dann Special Olympics. Dieses Jahr habe ich mir noch vorgenommen, einmal im Monat mit meiner Assistenz wandern zu gehen. Das brauche ich für meine Kondition. Dieses Wochenende war es das dritte Mal, da bin ich allerdings hingeflogen. Aller guten Dinge sind eben drei. *alle lachen*

Interview geführt am: 05.03.2020

Interview veröffentlicht am: 24.06.2020